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Politik

Putin muss eskalieren, um zu überleben

Soric Miodrag Kommentarbild App
Miodrag Soric
21. September 2022

Die russische Teilmobilmachung und die hastig angesetzten "Referenden" in der Ostukraine sind Zeichen der Schwäche. Putin hat sich verkalkuliert; den Preis zahlen zehntausende Russen mit ihrem Leben, meint Miodrag Soric.

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Russland Wladimir Putin hält Rede an die Nation
Russlands Staatchef Wladimir Putin bei seiner Rede an die NationBild: AdrienFillon/ZUMA Wire/IMAGO

Er kann nicht zurück: Verliert er seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine, wird es Putin die Macht kosten, vielleicht mehr. Ähnliches gilt für Politiker in der Regierung und in der Duma, die ihr Schicksal auf Gedeih und Verderb mit dem Kremlchef verknüpft haben. Sie sind in Panik. Angesichts der Erfolge der Ukrainer bei der Rückeroberung ihres Landes droht Moskau tatsächlich eine militärische Niederlage. Eine, mit der in Moskau niemand gerechnet hat. Deshalb ordnet Putin jetzt die Teilmobilmachung an, will 300.000 Reservisten an die Front werfen. Sie sollen den Vormarsch der Ukrainer stoppen; einen Vormarsch, der den desolaten Zustand der russischen Armee dokumentiert.

Geschwächt und isoliert?

Noch vor wenigen Tagen - am Rande des Treffens der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) in Usbekistan - sagte ein um Gelassenheit bemühter Putin, dass Russland es in der Ukraine nicht eilig habe. In Wirklichkeit sah die Welt einen geschwächten, isolierten Putin. Fernsehkameras zeigten einen alt gewordenen Mann, den die anderen Staats- und Regierungschefs warten ließen. Putin saß artig auf der Couch und hörte zu, was sie zu sagen hatten. Die Türkei, Indien, ja sogar China ließen öffentlich durchblicken, dass sie Putins Krieg ablehnen, die territoriale Integrität der Ukraine befürworten. Mit gutem Grund: Der Krieg belastet die Weltwirtschaft und damit die Macht jener Politiker, von denen sich Putin Unterstützung für sein Angriffskrieg erhoffte.   

Kurswechsel im Kreml

So konnte es aus der Sicht des Kremls nicht weitergehen. Zurück in Moskau hat es Putin deshalb sehr eilig, den Kurs zu ändern. Letztlich ist die Teilmobilmachung das Eingeständnis der militärischen Schwäche im Osten der Ukraine. Mit der Ankündigung, binnen Tagen in den eroberten Gebieten über einen Beitritt zur Russischen Föderation "abstimmen" zu lassen, wird offensichtlich, dass die Ukrainer nicht zu Russland wollen. Denn eine Abstimmung vor Gewehrläufen, Referenden in Ruinen, wird niemand in der Welt ernst nehmen.

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DW-Chefkorrespondent Miodrag Soric

Putin will das Raubgut sichern. Die eroberten Gebiete sollen Teil der Russischen Föderation werden. Dann kann Putin mit dem Einsatz aller militärischen Mittel zur Verteidigung der Heimat aufrufen. Aus der zeitlich und räumlich begrenzten "militärischen Spezialoperation", die mit dem Alltag der meisten Russen wenig zu tun hatte, wird rhetorisch die Verteidigung "russischer Erde" mit allen Mitteln - auch mit Atomwaffen.

Das Ende der "Spezialoperation"

Man muss kein großer Prophet sein, um das baldige Ende des Terminus "militärische Spezialoperation" vorauszusagen. Ihn wird die Kreml-Propaganda beerdigen. Stattdessen wird es immer verrücktere, wirrere Lügen, Erfindungen, Bedrohungen geben, mit der das staatlich gelenkte Fernsehen die Russen zu indoktrinieren versucht. Schon jetzt wird behauptet, Russland führe keinen Krieg gegen die Ukraine, sondern verteidige sich in der Ukraine gegen die USA und England. Das glaube, wer es glauben will.

Putins neuerliches Zündeln werden die Führer der Welt, die derzeit bei der UN-Generalversammlung in New York zusammenkommen, ernst nehmen. Ihre Politik gegenüber Moskau wird sich aber kaum ändern. Kiew wird weiter Waffen erhalten, seine Armee weiter kämpfen. Und die 300.000 russischen Reservisten? Sie waren noch nie im Krieg, sind schlecht ausgerüstet. Es sind Familienväter, Männer, die gegen ihren Willen aus ihrem Alltag gerissen werden. In der Ukraine sollen sie Russland verteidigen - an der Seite von Straftätern und tschetschenischen Söldnern. Das kann nicht gut gehen. Sie werden mit eigenen Augen sehen, dass die Ukrainer nicht zu Russland gehören wollen. Zehntausende Männer werden sterben, damit Putin und seine Umgebung an der Macht bleiben können, sich nicht rechtfertigen müssen für ihre Verbrechen am eigenen Volk. Das ist die eigentliche Tragödie der jüngsten Fehlentscheidung des Kremlchefs.