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PolitikEuropa

Die Russen hatten keine Wahl

20. September 2021

Präsident Putin behält seine Machtbasis in der Duma, dem russischen Unterhaus. Seine Kreml-Partei musste dazu alle Register ziehen. Die Abstimmung führt Russland weiter Richtung Autokratie, meint Christian F. Trippe.

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Russlands Präsident Putin im Sessel sitzend, im Hinterrund das Logo seiner Partei "Geeintes Russland" mit dem Bären
Russlands Präsident Putin bei einem Kongress seiner Partei "Geeintes Russland"Bild: Mikhail Voskresensky/Pool Sputnik Kremlin/AP/dpa/picture alliance

Wie oft ist vor dieser Wahl gesagt und geschrieben worden, das Ergebnis stehe bereits fest, die Polit-Technologen im Kreml knobelten nur noch um die Stellen hinter dem Komma. Diese Gewissheit so vieler politischer Beobachter vermochte nicht die große Nervosität zu erklären, die in Moskau vor der Wahl spürbar war. "Die Macht" - wie die Regierung in Russland genannt wird - hatte in den vergangenen Wochen nichts unversucht gelassen, um die herrschenden politischen Verhältnisse abzusichern.  

Bei dieser Wahlinszenierung durfte aus Sicht des Kremls nichts schiefgehen. Und folglich wurde an dem Drehbuch für die Abstimmung seit Monaten geschrieben und gefeilt. Hunderte Oppositionspolitiker bekamen keine Zulassung als Kandidaten, meist unter fadenscheinigen Gründen. In Petersburg wurden sogar Fake-Kandidaten aufgestellt, namensgleiche Doppelgänger eines aussichtsreichen liberalen Politikers.

Der neurotische Vorwurf ausländischer Einflussnahme

Wahl-Manipulation als Farce - andernorts war die Behinderung oppositioneller Arbeit weniger lustig. Eine internationale Wahlbeobachtung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) wurde abgeblockt. Schließlich erhielten einige unabhängige Medien und Organisationen der Zivilgesellschaft das Etikett "ausländischer Agent" umgehängt - eine amtliche Stigmatisierung, um sie vom politischen Prozess fernzuhalten. 

Christian Trippe Leiter Hauptabteilung Osteuropa
Christian F. Trippe leitet die Osteuropa-ProgrammeBild: DW

Die Zentrale Wahlleitung behauptete, die Abstimmung litte unter Cyber-Angriffen aus den USA, aus der Ukraine und aus Deutschland - ohne diesen schweren Vorwurf weiter zu präzisieren. Die neurotisch-aufgebauschte Angst vor ausländischer Einflussnahme ist zur russischen Staatsräson mutiert, auch das hat diese Wahl wieder einmal gezeigt.

Das bekamen auch die beiden amerikanischen Tech-Giganten Google und Apple zu spüren. Über deren digitale Dienstleistungen waren die Wahlempfehlungen der in Russland verbotenen und als extremistisch eingestuften Nawalny-Organisation abrufbar. Der Kreml sah sich durch dieses "Smart Voting" genannte System offenbar so herausgefordert, dass er blankzog. Nach Medienberichten drohten russische Sicherheitsbehörden damit, Mitarbeiter dieser beiden Konzerne in Russland verhaften zu lassen, sollten die Hinweise auf das "Smart Voting" nicht von deren Plattformen verschwinden. Apple und Google knickten ein. Beim "Smart Voting" wird versucht, die Kandidaten der Machtpartei aus dem Feld zu schlagen, indem alle Stimmen eines Wahlkreises auf den aussichtsreichsten Gegenkandidaten gelenkt werden - ganz egal, welcher Partei und politischer Richtung er oder sie angehört.

Die entlarvende Selbstbezeichnung "gelenkte Demokratie"

Seit gut zwei Jahrzehnten nun sieht sich Russland als "gelenkte Demokratie". Diese entlarvende Selbstbezeichnung wählten Präsident Putins Chefberater einst, um die Umformung der damals   jungen und unfertigen russischen Demokratie in ein autoritäres System zu rechtfertigen. Dieser Kurs war erschreckend erfolgreich, aber er ist - in den Augen seiner Erfinder - noch nicht an seinem Endpunkt. So konnte der Kreml nicht alle Ziele erreichen, die er mit dieser Wahl verfolgte.  

Denn allen Eingriffen in den Wahlkampf und vereinzelt wohl auch bei der Stimmenauszählung zum Trotz: Auch den Mächtigen in Moskau ist klar, dass Wahlen nicht auf Biegen und Brechen gefälscht werden können. Das Beispiel im Nachbar- und Bruderland Belarus steht den Polittechnologen mahnend vor Augen. Dort hatte es Machthaber Lukaschenko bei der Wahlfälschung im Sommer vergangenen Jahres zu doll getrieben; wochenlange Proteste auf den Straßen von Minsk waren die Folge. Und in Moskau erinnern sich viele an die heimische Protestwelle vor zehn Jahren - auch sie war ein Reflex auf eine mutmaßlich gefälschte, und damit den Bürgerinnen und Bürgern gestohlene Wahl.

Demokratische Fassade mit autokratischem Kern

Nach Möglichkeit sollte die bisherige, überaus komfortable Mehrheit der Kremlpartei verteidigt werden - dies gelang nur unter erkennbaren Mühen. Dabei hatte "Geeintes Russland" als Partei der Macht und der Mächtigen diesen Urnengang als eine Art Vertrauensabstimmung inszeniert. Außenminister Lawrow und Verteidigungsminister Schoigu gaben der Kampagne ihr Gesicht. Ihre Kandidatur wird aber wohl nicht dazu führen, dass diese zwei ihre Mandate auch antreten werden. Das zeigt, wie gering der Stellenwert des Parlaments im russischen Staatsgefüge ist. 

Diese Wahlen waren für Russlands Machtelite eine Art Stresstest, der die Reihen schließen sollte. Aus ihrer Sicht ist er glimpflich ausgegangen. Aus Sicht all derjenigen aber, die in Russland ernsthaft für politische Alternativen arbeiten, war diese Wahl keine Wahl. Sondern ein weiterer Schritt auf dem Weg in einen Staat, dessen demokratisch getünchte Fassaden den autokratischen Kern nur noch notdürftig überdecken.