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"Meinungsfreiheit ist kein absoluter Wert"

Das Interview führte Geraldo Hoffmann 25. April 2006

Für sein Buch "Kirche und Macht" erteilte der Vatikan 1985 dem Befreiungstheologen Leonardo Boff Rede- und Lehrverbot. Mit DW-WORLD spricht er über interreligiösen Dialog, Karikaturenstreit und den deutschen Papst.

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Leonardo Boff in Porto Alegre 2005Bild: Marcello Casal Jr./ABr

DW-WORLD.DE: In Deutschland geht demnächst Popetown, eine Fernsehsatire über den Papst und den Vatikan auf Sendung. Was halten Sie von Satire über Religion oder religiöse Symbole?

Leonardo Boff: Satire und Humor haben ihren Platz in der Gesellschaft, aber alles hat Grenzen, besonders, wenn die Satire Werte und Symbole betrifft, die das Heilige darstellen, wie Mohammed, den Papst oder andere religiöse Oberhäupter. Die Meinungsfreiheit ist kein absoluter Wert. Ich finde es äußerst geschmacklos, Satire -wie jetzt bei Popetown- über den Papst und den Vatikan zu machen. Erstens, weil es den Glauben von Millionen von Katholiken beleidigt. Zweitens, weil es Dimensionen des Heiligen angreift, die im Zusammenhang mit diesen Personen und Institutionen stehen. Eine andere Sache wäre es, den Machtmissbrauch, die Zentralisierung der Kirche zu kritisieren, aber das erfordert immer Respekt, Toleranz und ein Gefühl für Grenzen.

Ist jetzt eine Satire-Welle über das Christentum und andere Religionen zu erwarten, nachdem der Streit um die Mohammed-Karikaturen so viel Medienecho bekam?

Das grundlegendste Gesetz, wonach die heutigen Gesellschaften handeln, wird vom Markt vorgeschrieben. Alles wird zur Ware, vom Sex bis zu der Heiligen Dreifaltigkeit. Mit allem kann man Geld machen. Diese Vermarktung aller Instanzen der Gesellschaft kann dazu führen, dass man Geschäfte macht mit Satire und andere Ausdrucksformen, die Autoritäten lächerlich machen. Die Gesellschaft muss Selbstkritik üben und sich fragen, wo die Grenzen sind. Alles hat seine Grenze, und wenn diese überschritten wird, sind wir nah am Verbrechen, nah am Bruch des sozialen Zusammenhalts. Das Leben und die Werte, die dem Leben Sinn geben und Millionen von Menschen mobilisieren, dürfen nicht zur Kommerzware gemacht werden. Ich denke, solche Phänomene zeigen, wie weit der Verfall der westlichen Kultur bereits fortgeschritten ist.

Sollte es in diesem Fall Zensur oder Selbstzensur geben?

Es geht nicht um Zensur oder Selbstzensur, sondern um eine Gesetzgebung, die sich eine Gesellschaft gibt, um zu bestimmen, was erlaubt und was nicht erlaubt ist. Es ist heute zum Beispiel klar, das man keine Nazipropaganda machen darf, keine Propaganda für den Terrorismus oder die Diskriminierung von Schwarzen oder HIV- Infizierten. All dies sind Straftaten, die das Gesetz ahndet und somit die Gesellschaft schützt. Es ist wichtig, dass es Selbstkritik gibt. Der Staat sollte in Sachen Zensur nur eingreifen, wenn Grenzen überschritten werden, die das Gemeinwohl betreffen und Leid und Diskriminierung für andere Menschen verursachen.

Sie sagten im Rahmen des Karikaturenstreits, dass der islamische Glaube den Westen hinterfragt. Inwiefern?

Der Westen durchläuft einen raschen Prozess der Säkularisierung. Diese hat damit die Religion, das Heilige, nicht eliminiert, hat sie aber der Subjektivität und Individualität überlassen. In diesem Sinn bedeutet Religionsfreiheit die Freiheit, keine Religion oder keinen Glauben zu haben. Das ist der Weg unserer Kultur seit der Aufklärung. Heute fragen wir uns, ob Religion nicht doch dabei hilft, einen sozialen Zusammenhalt zu schaffen und eine humanistische Ethik zu gründen. Es geht aber nicht um einen konfessionellen, sondern einen anthropologischen Glauben, eine Dimension des menschlichen Zusammenlebens.

Leonardo Boff
Boff 1986Bild: AP

Die islamische Kultur hat da eine andere Vision, die besagt, dass eine menschliche Gesellschaft ohne Gott nicht möglich ist. Das bedeutet noch nicht, dass alle an Allah glauben müssen, aber es ist eine Referenz für alle Menschen in dieser Gesellschaft. Wenn der Westen diese Referenz – in dem Fall Mohammed als Zeuge Allahs – kritisiert, so trifft man das Herz des gesellschaftlichen Selbstverständnisses der islamischen Kultur und man beleidigt eine Milliarde Menschen. Unsere Überzeugungen sind Werte wie Demokratie und Menschenrechte. Es wäre vergleichbar damit, wenn Muslime Menschenwürde und -rechte als westliche bürgerliche Erfindung abtuen würden. All dies wäre einen Angriff auf die grundlegenden Überzeugungen der westlichen Kultur.

Sehen Sie einen ernsthaften Dialogversuch zwischen dem Westen und der islamischen Welt oder benutzt man das Wort "Dialog" nur wie einen Feuerlöscher, wenn es Krisen gibt?

Die westliche Tradition ist die des Krieges gegen die Muslime. Die Christen führten Kreuzzüge gegen die Muslime, die immer eine Bedrohung für die Europäer darstellten. Es gab schon immer einen Kampf um die kulturelle und militärische Vorherrschaft zwischen der muslimischen und der christlichen Welt. Der Grundton ist nicht der Dialog, sondern der Konflikt, die Demoralisierung, der Krieg. Heute erkennt man aber, dass man mit dieser Tradition brechen muss, sonst könnte es zu einem generalisierten Konflikt kommen. Ein ernsthafter Dialog muss die Gemeinsamkeiten hervorheben und nicht die Unterschiede.

Ist dies auch der Schlüssel, um das Problem der Integration muslimischer Immigranten in Europa zu lösen?

Der Westen, besonders Europa, hatte schon immer große Schwierigkeiten, mit dem Anderen, dem Fremden. Es ist eine Kultur, die ihre Identität so stark hervorhebt, dass sie Unterschiede ausschließt. Bereits die Kolonialmächte haben die indigenen Kulturen Lateinamerikas zerstört, die Schwarzen in Afrika versklavt, den Orient ihren ökonomischen Interessen untergeordnet. Europa, der Westen, hat es nie geschafft, den Anderen in seiner Verschiedenheit anzunehmen. Entweder hat es ihn durch Unterwerfung einverleibt oder ihn zerstört. Aber heute sitzt der Andere im eigenen Territorium. Es sind Millionen Türken, Araber, Afrikaner, die in Spanien, Deutschland, Belgien, Schweden und so weiter leben. Der Dialog muss also auf nationaler Ebene beginnen. Und dies wird zum Test, um zu sehen, wie viel Unterschied der europäische Magen verträgt. Die Herausforderung für Europa ist, sich zu öffnen und zu zeigen, dass es keine versteinerte Kultur ist, sondern sich vom Anderen, vom Unterschied bereichern lassen kann.

Leonardo Boff
Franziskaner, Befreiungstheologe, KämpferBild: AP

Kann Lateinamerika, das die Theologie der Befreiung hervorgebracht hat, Beispiele für interreligiösen und interkulturellen Dialog liefern, die für andere Regionen der Welt anwendbar sind?

Die Theologie der Befreiung ist aus dem Versuch entstanden, den Schrei der Unterdrückten zu hören. Am Anfang waren das die Armen, dann die Indianer, die Schwarzen und die Frauen. Daraus entstand ein Dialog des Christentums mit den afrikanischen und indigenen Religionen. Dieser Dialog brachte eine große Bereicherung.

Könnte das ein Beispiel für Europa sein?

Es ist ein Versuch, den wir an der Peripherie machen, der aber die großen Zentren beeinflussen könnte. Denn dieser Dialog passiert ohne Konflikte, ohne ideologische Kriege oder gewalttätige Auseinandersetzungen mit den Schwarzen und Indianern, sondern im gegenseitigen Respekt. Brasilien ist eine multikulturelle und multireligiöse Gesellschaft mit vielen Nationalitäten, und alle leben friedlich miteinander. Es ist ein zivilisatorischer Versuch, der zeigt, dass es möglich ist, etwas Ähnliches in anderen Teilen der Welt zu machen.

Papst Benedikt XVI. hat in seinem ersten Amtsjahr den Willen zum Dialog mit anderen Religionen betont. Sehen Sie eine Chance für die Ökumene unter dem deutschen Papst?

Papst Benedikt XVI. hat eine bedeutende Geste gezeigt mit dem Besuch einer muslimischen Moschee in Rom. Das war ein Zeichen um zu sagen: Wir müssen miteinander reden. Denn der Zusammenprall der arabisch-muslimischen mit der westlichen Kultur ist sehr stark und zeigt sich in einer sehr gravierenden und gefährlichen Form im Konflikt zwischen Palästinensern und Israelis. Frieden, Begegnung und Dialog ist dringend notwendig. Es ist wichtig, dass das Christentum als vorherrschende Religion die Initiative ergreift und man sich wirklich begegnet. Aber es reicht nicht, einen Kompromiss zwischen den Religionen zu schließen, sondern dieser Kompromiss muss die Basis für einen politischen Kompromiss sein. Der religiöse Frieden muss als Basis für den politischen Frieden, für den Weltfrieden dienen. Möglicherweise ist dies der richtige Weg. Und dies – denke ich – hat Papst Benedikt verstanden, und wir sollten mit Überzeugung diese Initiative der Makroökumene intensiv unterstützen.