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"Egoismus bremst Europa"

Ralf Bosen6. Februar 2013

Die Eurokrise ist Ausdruck tiefer politischer Probleme. Das ist eine der Thesen des Schriftstellers Robert Menasse. Im DW-Interview kritisiert er die EU-Staaten als Bremser des europäischen Einigungsprozesses.

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Eine Porträtaufnahme von Menasse (Foto: Imago Hoffmann)
Robert MenasseBild: imago/Hoffmann

Eigentlich wollte der renommierte österreichische Schriftsteller Robert Menasse einen Roman über die Europäische Union schreiben. Er reiste nach Brüssel und recherchierte ein halbes Jahr in den europäischen Institutionen. Seine zum Teil überraschenden Erlebnisse mit EU-Beamten und seine Gedanken zur Zukunft der EU haben Menasse veranlasst, zunächst das Essay 'Der europäische Landbote – Die Wut der Bürger und der Friede Europas' zu schreiben. Der ursprünglich geplante Roman über die EU hat Menasse derzeit in Arbeit.

Deutsche Welle: Herr Menasse, Sie haben ein halbes Jahr in Brüssel recherchiert, sich dort auch eine Wohnung genommen? Wie haben Sie die EU erlebt?

Es gibt eine weit verbreitete Klischeevorstellung von der Brüsseler Bürokratie und ich habe auch nicht mehr gewusst und mir da auch nichts wesentlich anderes vorgestellt, als das, was sich jeder vorstellt, wenn er von der Brüsseler Bürokratie hört. Ich war sehr verblüfft, dass es sich dann vor Ort doch deutlich anders für mich gezeigt hat. Zuerst einmal ist die so genannte Brüsseler Bürokratie kein geschlossenes Gebilde, das sich nach außen wie eine Wagenburg abschottet. Es stimmt auch nicht, dass da weltfremde Menschen sitzen, die irgendwas aushecken ohne eine genaue Vorstellung mehr vom Leben da draußen zu haben. Ich war überrascht, wie offen und transparent die Bürokratie in Brüssel arbeitet. Es gab überhaupt keine Schwierigkeit da hinein zu kommen, mit Menschen zu reden, Informationen zu erhalten. Ich war verblüfft von der Bescheidenheit der Bürokratie und wie wenig Menschen dort arbeiten, wenn man bedenkt, wie viel Aufgaben sie haben und dass sie im Grunde einen ganzen Kontinent verwalten.

In Ihrem Buch "Der Europäische Landbote" sparen sie aber nicht mit Kritik. Vor allem nehmen Sie den Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs ins Visier. Was stört Sie genau an diesem Führungszirkel?

Es gibt einen Widerspruch zwischen der Überwindung der Nationalstaaten, also der Vergemeinschaftung Europas auf der einen Seite und auf der anderen Seite dem Versuch immer wieder nationale Interessen zu verteidigen, nationale Sonderwege zu gehen. Die Verteidigung nationaler Interessen liegt vor allem im europäischen Rat, wo sich die nationalen Staats- und Regierungschefs treffen. Die blockieren die nach-nationale Entwicklung und wegen diesem Grundwiderspruch knirscht und kracht es unausgesetzt. Dieser Widerspruch ist es auch, der die Krise produziert hat. Was wir heute Krise nennen, ist eine Transformationskrise und keine Finanzkrise. Es ist eine politische Krise. Die verantwortlichen politischen Eliten sind national gewählt und können nur in nationalen Wahlen ihre Wiederwahl organisieren. Das heißt, sie müssen ununterbrochen versuchen, so etwas wie nationale Interessen aufrechtzuerhalten. Diese nationalen Interessen sind eine Blockade gegenüber jedem Versuch gemeinschaftliche Lösungen für Probleme zu finden, die national nicht mehr gelöst werden können. Darum ist mir immer klarer geworden, dass die Entwicklung der EU und die Entwicklung Europas nur vernünftig vorangehen können, wenn man den europäischen Rat schwächt. Hier liegt die Blockade, hier liegt das Problem und nur hier kann man die Krise Europas in den Griff bekommen.

Wie sehen Sie in diesem Zusammenhang die Diskussion um die Sonderrolle Großbritanniens? Glauben Sie, dass es besser wäre, wenn Großbritannien aufgrund seines Egoismus aus der EU austreten sollte?

Großbritannien ist ein wunderbares Beispiel für das, was ich soeben gesagt habe. Großbritannien ist Mitglied der Europäischen Union und ist Teil Europas. Aber in der EU ist die englische Politik ein unausgesetzter Krisenproduzent. Die machen beim Euro nicht mit, sie machen nicht mit bei Schengen, dem innen-grenzenlosen Europa und sie machen bei der Bankenaufsicht nicht mit. Gleichzeitig sind sie aber als Mitglied natürlich auch vertreten. Premierminister David Cameron hat einen Sitz im Europäischen Rat. Jetzt machen die Briten nirgendwo mit und haben daher auch kein Interesse, dass das Vereinigte Europa voranschreitet. Sie blockieren, wo sie nur können. Es kann nicht sein, dass wegen nationaler Interessen des Vereinigten Königreiches England die Entwicklung des ganzen Kontinents behindert wird und ein Land ununterbrochen 26 andere in Geiselhaft nimmt. Bei aller Anerkennung für die englische Geschichte als Teil der europäischen Geschichte wäre es heute für die europäische Union besser, wenn England austreten würde.

Cameron bei während seiner Europarede (Foto: REUTERS/Suzanne Plunkett)
Der britsiche Premierminister David CameronBild: Reuters

Herr Menasse, lösen wir uns von Großbritannien und reden über die allgemeine Rolle der Nationalstaaten in Europa. Diese stehen auch für das Prinzip der gegenseitigen Kontrolle in der EU. Ist es nicht wichtig, dass es mit dem Europäischen Rat eine gewichtige Stimme gibt, die möglichen realitätsfernen Entscheidungen Brüssels Einhalt gebietet – auch damit berechtigte Interessen der Nationalstaaten nicht untergehen?

Ich hab das genau umgekehrt erlebt. Ich habe die Vorschläge der Kommission viel nationaler und nachvollziehbar gehalten als die Bedenken und die Kontroll- sowie Veto-Reaktionen der Nationalstaaten. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Vor der Einführung der Gemeinschaftswährung hat die Europäische Kommission erklärt, dass sie nur mit einer gemeinsamen Fiskalpolitik funktionieren kann. Die Europäische Kommission hat gewusst, dass es zum Beispiel in Griechenland kein vernünftiges Fiskalsystem gibt. Die Kommission hat vorgeschlagen, dass die Europäische Union Griechenland hilft, ein Steuersystem auf Basis gemeinsamer europäischer Standards aufzubauen. Deutschland, Polen und England haben ein Veto eingelegt. Warum? Aus nationalen Interessen! Die Polen haben gesagt, wir wollen kein gemeinsames europäisches Steuerrecht, weil wir im Moment davon leben, dass wir durch Steuervorteile für Konzerne, Kapital ins Land holen. Die Deutschen haben auch dagegen gestimmt, weil sie vermutet haben, dass die Kommission dies als ersten Schritt zu einem gesamteuropäischen Fiskalsystem plant. Die Deutschen wollten das nicht, weil sie gesagt haben, Steuerhoheit und Budgethoheit muss nationales Souveränitätsrecht bleiben. Sie haben aber gewusst, in Griechenland wird das nicht funktionieren. Aus nationalem Egoismus haben sie eine Kontrolle im Hinblick auf Probleme verhindert, die dann tatsächlich entstanden sind. Als die Probleme da waren, haben dieselben Nationen gesagt, die Griechen seien schuld, sie hätten kein vernünftiges Steuersystem. Da war der Vorschlag der Kommission wesentlich rationaler, weitsichtiger und hellsichtiger als das kurzfristige egoistische Nationalinteresse jener Nationen, die damals ein Veto eingelegt haben. Heute kommt das diesen Staaten sehr teuer zu stehen.

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Im Zusammenhang mit der Finanzkrise machen sie besonders Angela Merkel Vorwürfe. Was hat die Bundeskanzlerin Ihrer Ansicht nach falsch gemacht?

Ich habe ihre zögerliche Politik kritisiert, die dazu geführt hat, dass die Krise immer teurer wurde. Die Politik, die Angela Merkel gemacht hat, ist in gewisser Weise auch nachvollziehbar. Sie wird in Deutschland gewählt. Sie wird von deutschen Wählern gewählt. Sie hat Angst gehabt, dass der deutsche Steuerzahler sagt, wir wollen keine Kanzlerin, die unser Steuergeld nach Griechenland schaufelt. Ich weiß nicht, ob sie wirklich nicht gewusst hat, um wie viel teurer es durch ihre Hinhaltetaktik wird. Sie hat regelmäßig gegen Lösungsmöglichkeiten gestimmt, denen sie später doch zugestimmt hat.

Merkel und Samaras im Kanzleramt (Foto: Carsten Koall/Getty Images)
Merkel und der griechische Regierungschef Samaras in BerlinBild: Getty Images

Und da muss man den deutschen Wählern eines in Erinnerung rufen: Das europäische Projekt ist auch deswegen gegründet worden, weil man nie wieder haben wollte, dass Europa unter Führung oder Machtanspruch Deutschlands steht. Und das zweite ist, wenn man sagt, Merkel sei eine demokratisch legitimierte Politikerin und die Kommissionsbeamten seien ja nie irgendwie demokratisch legitimiert worden, dann muss man in Erinnerung rufen, dass Frau Merkel in 26 von 27 Staaten auch nicht gewählt wurde. Ihre Politik hat aber Auswirkungen auf alle 27 Staaten. Das zeigt die unproduktive und letztlich auch undemokratische Widersprüchlichkeit einer politisch-institutionellen Konstruktion, in der der Europa-Rat zuviel Macht hat.

Es ist aber auch so, dass die Finanzkrise für die meisten Politiker in der Dimension unüberschaubar ist. Kein Politiker in Europa hat einen Erfahrungswert, mit dem sich die Krise in den Griff kriegen lässt. Haben Sie insofern ein wenig Verständnis für die Politik?

Natürlich, ich habe alles Verständnis für die Politik, soweit man als Individuum Politik in diesen komplexen Sphären überhaupt verstehen kann. Aber mein Verständnis hört dort auf, wo verschiedene Vorschläge auf dem Tisch liegen, wo es Alternativen gibt. Die Politik aber immer wieder auf Basis nationaler Interessen Alternativen vom Tisch wischt.

Herr Menasse, die Menschen müssen das Projekt Europa unterstützen. Als Folge der Finanzkrise drohen viele Europäer den Glauben an die Europäische Union zu verlieren. Was kann oder was müsste die EU Ihrer Ansicht nach unternehmen, um die Menschen wieder zuversichtlich zu stimmen?

Die politischen Eliten müssten die Größe haben, Fehler einzugestehen. Zum Beispiel, dass jene Politiker, die für die Einführung des Euro verantwortlich waren, es verhindert haben, dass politische Instrumente geschaffen wurden, um die Gemeinschaftswährung finanzpolitisch managen zu können. Man hat es versäumt, dass dies mit einer gemeinsamen Wirtschaft-, Finanz- und Fiskalpolitik verbunden wird. Wenn die Politik in der öffentlichen Debatte deutlich machen würde, es gibt Fehler, wir holen das jetzt nach, damit ihr die Vorzüge der Vergemeinschaftung genießen könnt wie die Reisefreiheit, der Niederlassungsfreiheit, der gemeinsamen Währung und so weiter. Dann würden die Menschen wieder Vertrauen fassen.

Robert Menasse (1954 in Wien geboren) gehört zu den bedeutendsten Autoren seiner Generation. Der promovierte Philosoph und Historiker hat nicht nur mehrere Romane geschrieben, die von der deutschsprachigen Kritik sehr positiv besprochen wurden, sondern er ist auch als pointierter Essayist bekannt. Menasse wird am 27. März mit dem diesjährigen Heinrich-Mann-Preis der Berliner Akademie der Künste ausgezeichnet.