Von Afghanistan in die Türkei
25. August 2021"Bruder, es gibt Menschenschmuggel seitdem das erste Mal Grenzen gezogen wurden. Solange es Grenzen gibt, wird dieses Geschäft weitergehen", erzählt uns Baver - ein 32-jähriger Schleuser, der an der türkisch-iranischen Grenze arbeitet. Weil er unerkannt bleiben möchte, will er sich nicht mit uns treffen. Stattdessen telefonieren wir über WhatsApp - er nutzt das Mobiltelefon eines Bekannten.
Bavers Position in der Organisation ist nach seinen eigenen Angaben sehr wichtig: Es liege in seiner Verantwortung, die Flüchtlinge in die "sichere Zone", die ostanatolische Stadt Van, zu bringen. "Tausende habe ich bereits über die Grenze gebracht", sagt er nicht ganz ohne Stolz. An welcher Stelle genau er Flüchtlinge über die iranisch-türkische Grenze schleust, möchte er uns nicht verraten. Die Aufdeckung seiner Routen könnte den Zusammenbruch der gesamten Schleuser-Organisation zur Folge haben, warnt er. Diese umfasst ein breites Netz von Schleppern, die in Afghanistan, Pakistan, im Iran, in der Türkei und sogar in Europa operieren.
Kampf gegen Schleuserkriminalität
Bavers Sätze klingen nervös und hastig: "Ich muss vorsichtig sein, um nicht die Polizei an der Backe zu haben." In türkischen Städten an der iranischen Grenze fokussiert sich die Polizei vermehrt auf das illegale Schleusen von Migranten. Auch schon vor der Machtergreifung der Taliban in Afghanistan führte die Polizei dort vermehrt Operationen durch. Zahlreiche Gerichtsverfahren wurden eingeleitet und seit Anfang des Jahres wurden gegen 920 Schleuser Gerichtsverfahren eröffnet. "Da möchte ich mich nicht einreihen", so Baver.
Der Menschenschmuggler nennt die Migranten, die er schleust, seine "Gäste". Ein kodifizierter Jargon soll es der Polizei erschweren, die Kommunikation unter den Schleppern nachzuverfolgen. Zudem würden sie darauf achten, Kommunikationsdienste wie WhatsApp oder Telegram zu verwenden. Programme, die die Polizei schwer überwachen kann.
Das internationale Schleusergeschäft
Afghanistan ist ein Land, das seit vielen Jahren Ausgangspunkt für Flüchtlingsbewegungen ist und daher ein Ort ist, wo der Menschenschmuggel floriert. Die Transfergebühr für einen Migranten, der von Afghanistan nach Istanbul möchte, beträgt 1500 US-Dollar. Die Preise sind durch den Sieg der Taliban angestiegen - vor allem, weil die türkische Grenze nun besser abgesichert ist.
Die afghanischen Flüchtlinge, die im türkischen Grenzgebiet auf Bavers Hilfe angewiesen sind, haben bereits einen langen Weg hinter sich. Baver erklärt, dass die Schleuser-Organisationen aus Tausenden von Personen bestehen, die über Ländergrenzen hinweg zusammenarbeiten: In jedem Land - in Afghanistan, in Pakistan, im Iran und in der Türkei - gibt es sogenannte Garanten. Diese Vermittler erhalten den gesamten Betrag, den ein Flüchtling bezahlen muss und überweisen nach Abschluss jeder Etappe den jeweiligen Schleusern via "Hawala" ihren Anteil. Hawala, ein weltweit bestehendes informelles Geldtransfersystem, wird für Überweisungen abseits traditioneller Bankkanäle genutzt.
Ein langer und beschwerlicher Weg
Erste Etappe: Sobald 30 oder 40 Personen zusammengekommen sind, werden sie von Kabul an die Grenze zur pakistanischen Provinz Belutschistan gebracht. Die Route über die afghanisch-iranische Grenze wird gemieden, weil dieser Weg sehr gefährlich ist.
An der Grenze übernehmen belutschische Schleuser. Nach der Ankunft in Pakistan beginnt der nächste Schritt: Der lange und beschwerliche Weg zur iranischen Grenze. Es ist eine große Distanz, für die in der Regel drei oder vier verschiedene Schlepper zuständig sind. Dann werden die Flüchtlinge an einem "Nullpunkt", einem vereinbarten Ort an der iranischen Grenze, zurückgelassen.
Nachdem die Flüchtlinge die iranische Grenze passiert haben, sammelt ein Fahrzeug sie an verschiedenen Treffpunkten im iranisch-pakistanischen Grenzgebiet ein und bringt sie in einer zehnstündigen Fahrt nach Teheran. Mit Bussen werden sie dann vorübergehend in die westiranischen Städte Maku und Khoy befördert - beide Städte haben wiederum ihre eigenen Schleuser. Von dort werden sie in iranische Grenzdörfer gefahren - die Schleuser sind bekannt für ihre hervorragenden Beziehungen zur iranischen Grenzpolizei.
"Wir helfen Menschen, die sich in Lebensgefahr befinden"
Der letzte Schritt: In Gruppen von 40 oder 50 Personen werden die Afghanen schließlich über eine der insgesamt fünf geheimen Flüchtlingsrouten auf türkisches Territorium gelotst. Die Wanderungen beginnen bei Einbruch der Dunkelheit - bis zum Sonnenaufgang ist die Gruppe meistens angekommen. Sie kommen in den türkischen Orten Doğubayazıt, Çaldıran, Özalp und Saray an.
Warum sein Beruf kriminalisiert wird, kann Baver nicht nachvollziehen. Es ist überzeugt, dass er nichts Böses tut. Er findet, dass Schleuser - ganz im Gegenteil - Menschen helfen, die sich in Lebensgefahr befinden. Wie viel Geld er mit seinem Job verdient, möchte er aber nicht verraten.
"Wir machen nichts falsch. Wir schmuggeln keine Drogen oder Waffen. Die Tätigkeit, der wir nachgehen, ist wie ein Rad, das sich immer weiterdrehen wird. Menschenschmuggel wird es immer geben. Wenn wir es nicht tun, werden es eben andere tun. Unsere Großeltern haben es früher gemacht, unsere Kinder werden es nach uns weiterführen", fasst Baver zusammen.
Aus dem Türkischen adaptiert von Daniel Derya Bellut