Merkels Reisediplomatie
26. August 2016Eine großartige Kulisse: Der Himmel über dem Berliner Tiergarten erstrahlt in dunklem Spätsommerblau, das Kanzleramt glänzt im Mittagslicht. Davor ist ein Trupp in historischen Uniformen, mit dunklem Rock, Bärenfellmützen oder bunten Federbüschen auf dem Helm, aufmarschiert. Die Bürgerwache aus dem baden-württembergischen Mengen ist da und gibt der Bundeskanzlerin ein Ständchen: Preußens Gloria scheppert aus den Blechinstrumenten der Kapelle. Allein, die Adressatin ist nicht da. Eigentlich schon die ganze Woche nicht. Sie hat sich mit Polens Ministerpräsidentin Beata Szydlo in Warschau getroffen. Davor war sie mit Frankreichs Präsident Hollande und Italiens Premier Renzi auf einer italienischen Mittelmeerinsel und zu Besuch in Talinn und in Prag. Es fühlt sich fast schon einsam an, ohne die große Macherin im Berliner Regierungsviertel.
"Wie schafft sie das bloß?" - das ist so eine Zeile, die liest man immer wieder, wenn es um die Reisen Angela Merkels geht. Das sind gerne mal 20.000 Kilometer in vier Tagen, wie im Winter letzten Jahres im Zickzack zwischen Moskau und Ottawa. Um die Kanzlerin selbst muss man sich wohl keine Sorgen machen. Ihr wird nachgesagt, dass sie erstens ziemlich tough ist und zweitens jederzeit ungenutzte Minuten in erholsame Zwischenschläfchen umsetzt. In dieser Woche hat sie auch weniger mit Zeitverschiebungen zu kämpfen und tourt etwas kleinräumiger. Wohl eher so um die 7000 Kilometer in fünf Tagen. Die Thematik ist dennoch brisant. Es gilt, die Bedingungen dafür zu schaffen, dass die europäische Zusammenarbeit im Herbst produktiv weitergehen kann. Und da gibt es tatsächlich Grund zur Sorge.
Mit dem Flugzeug gegen die Fliehkräfte
Im September wird es den ersten EU-Gipfel ohne Großbritannien geben und die Haltung unter den Mitgliedsstaaten, wie mit dem künftigen Ex-Mitglied umzugehen sei, ist keineswegs einheitlich. Das ist nicht gut. Also trifft die Bundeskanzlerin zunächst Hollande und Renzi auf einem Flugzeugträger vor der italienischen Insel Ventotene. Hollande warnt vor "Zersplitterung und Spaltung" der EU und fordert neue Impulse. Er und Renzi gehören zu den Politikern, die eher einen harten Schnitt im Verhältnis zu den Briten wünschen, eine klare Grenze zwischen Dabeisein oder nicht, was die EU angeht. Angela Merkel will die Sache lieber ruhig angehen. Die Kanzlerin absolviert eine erfolgreiche Reiseetappe. Nach dem Treffen gibt es kaum handfeste Statements zu der Thematik, also auch keinen Wirbel. Für Merkel reicht das.
Zwei Tage später in Tallinn trifft sie ihren estnischen Amtskollegen Taavi Rõivas und fühlt in der Frage nach. Sie will auch hier keine Ergebnisse präsentieren, sondern besonders den kleinen Mitgliedsstaaten das Gefühl geben, gefragt zu werden. "Es ist eine Phase des Zuhörens, des Verstehens, des Voneinanderlernens", sagt sie dort. Rõivas dankt es ihr, indem er eine stärkere Rolle Deutschlands in der künftigen Union wünscht. Draußen auf der Straße buhen und pfeifen rechtsgerichtete Aktivisten die Kanzlerin aus - aufgrund ihrer Flüchtlingspolitik. Das ist die zweite Problemzone bei der Kanzlerinnenreise durch Europa und eine, bei der es für die "Wir-schaffen-das"-Politikerin wirklich anstrengend wird.
Bei ihrer nächsten Station in Prag bläst ihr der Wind ins Gesicht. Die Stadt ist voller Anti-Merkel-Demonstranten. Sie möchte eine europäische Quote für die Verteilung der Flüchtlinge. Der tschechische Ministerpräsident Bohuslav Sobotka sagt ihr klar: "Wir können keinem System zustimmen, dass auf verpflichtenden Quoten zur Umverteilung von Flüchtlingen besteht." Zugehört hat Merkel, aber dann muss sie weiter.
Heikle Station Warschau und Heimspiel
Die Bundeskanzlerin mutet sich schließlich zum Ende der Werkwoche noch ein Treffen mit der ganzen Visegrad-Gruppe zu. Zuerst in Warschau. Da war Premier Sobotka wieder dabei, aber auch die Amtskollegen aus Polen, der Slowakei und Ungarn. Es sind die härtesten Gegner von Merkels Flüchtlingspolitik und der Quote. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban hat den Termin gleich genutzt, um kräftig Stimmung gegen irgendeine Form von Willkommenspolitik zu machen. Er will, dass die Brüsseler Beschlüsse zu einer Flüchtlingsverteilung aufgehoben werden. Orban schwärmt von einer neuen, technisch aufgepeppten Grenzanlage um sein Land. "Diese wird gegebenenfalls auch mehrere Hunderttausende Menschen auf einmal aufhalten können", versprach er im staatlichen Rundfunk.
Merkel isst mit ihren vier Kritikern zu Mittag und kann dabei unter erschwerten Bedingungen das Zuhören, Verstehen und Voneinanderlernen üben. Am Abend schon wird sie sich dann auf vertrauterem Terrain wieder finden. Das Finale der anstrengenden Reisewoche findet auf heimischem Boden statt: Schloss Meseberg, dem Gästehaus der Bundesregierung nicht weit von Berlin. Die Regierungschefs der Niederlande, Schwedens, Finnlands und Dänemark trifft sie zum Abendessen. Und am Samstag speist sie gleich noch mit den Amtskollegen aus Österreich, Slowenien, Bulgarien und Kroatien. Sie hat dann 15 EU-Regierungschefs innerhalb einer Woche getroffen. So eine Reisewoche muss hart sein, aber für die Kanzlerin war es wohl eher ein Warmlaufen. Reisestress hin oder her: Sie weiß jetzt Bescheid und kann an ihrer Strategie für das große EU-Treffen im September feilen.