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Politik

Als die Berliner Mauer verschwand

Katarzyna Domagala-Pereira
9. November 2020

Angela Merkels politische Biographie wurde einst auch bei ihren privaten und beruflichen Reisen nach Polen geprägt. Freunde und Bekannte von früher erinnern sich.

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Deutschland | Angela Merkel 1992
Angela Merkel, Bundesministerin für Frauen und Jugend (2. Juli 1992)Bild: Erwin Elsner/dpa/picture-alliance

Es ist das Jahr 1989. Im November fällt die Berliner Mauer. Angela Merkel ist 35, Doktor der Naturwissenschaften, spezialisiert in Quantenchemie. Sie arbeitet am Zentralinstitut für Physikalische Chemie, das zur Akademie der Wissenschaften der DDR gehört. Die junge Wissenschaftlerin lebt in Berlin und hat bereits eine Scheidung hinter sich. An ihrer Seite ist ihr neuer Partner, der Quantenchemiker Joachim Sauer, den sie neun Jahre später heiraten wird.

Vier Tage nach dem Mauerfall reist Merkel auf Einladung eines polnischen Kollegen in das Nachbarland. "Sie kam mit dem Zug nach Thorn, ich habe sie am späten Nachmittag vom Bahnhof abgeholt. Sie hielt ein Referat und war bei uns zu Hause. Wir haben über verschiedene Dinge gesprochen, über Politik und unsere Träume, die sich verwirklichen", erinnert sich Jacek Karwowski, emeritierter Professor der Quantenmechanik an der Nikolaus-Kopernikus-Universität in Thorn/Toruń.

Ein Leben lang darauf gewartet

Bis heute hat er das Sofa, auf dem Angela Merkel damals saß. "Wir haben Tee oder Kaffee getrunken und im Fernsehen zeigten sie, wie die Berliner Mauer mit Hämmern abgebaut wird. Angela schaute zu und hatte Tränen in den Augen. Sie sagte: 'Gerade jetzt passiert es. Ich habe mein Leben lang darauf gewartet. Jetzt geht dort alles los und ich bin hier'", erzählt Karwowski.

Polen Professor Jacek Karwowski
Professor Jacek Karwowski über Angela Merkel: "Eine gute und solide Wissenschaftlerin"Bild: Anna Karwowska

Jahre später wird Merkel, schon als CDU-Chefin, erzählen, ihre polnischen Kollegen seien "bass erstaunt" gewesen, dass sie nicht in Deutschland geblieben sei, wo gerade alles so spannend war. "Und dann sagten sie mir, dass bei ihrem nächsten Berlin-Besuch Deutschland wohl schon wiedervereinigt sei. Das hat wiederum mich erstaunt, mir allerdings die Augen geöffnet. Für uns war der Mauerfall so eindrucksvoll, dass wir uns, anders als sie, über die weiteren Folgen längst nicht so schnell im Klaren waren", sagt sie 2003 der "Berliner Morgenpost”.

Damals, als am 9. November 1989 die Mauer fällt, geht Merkel am Abend mit einer Freundin in die Sauna und danach in West-Berlin spazieren. Sie sieht sich "in einen unglaublichen Zwiespalt gestürzt", wie sie 2008 bei der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Technische Universität Breslau/Wroclaw erzählt. Denn vier Tage später muss sie einen Vortrag vor "sehr anspruchsvollen polnischen Kollegen" halten, während "gleichzeitig aber plötzlich die Mauer in Berlin weg war" und sie in den Westteil konnte. Sie versucht "die Zeit ordentlich aufzuteilen" und hält an ihrer Reise nach Polen fest.

Gespräche über die Freiheit

1989 kennen sich Merkel und Karwowski schon seit einigen Jahren. Was sie verbindet, ist die Wissenschaft, aber auch gemeinsame Träume, über die sie während Wissenschaftlertreffen am See Bachotek sprechen. Dort treffen sich Quantenchemiker regelmäßig bei Sommercamps der Universität Thorn. Merkel ist 1985, 1987 und 1989 dabei, erinnert sich Karwowski. In Polen ist Merkel auch am 4. Juni 1989, als dort die ersten teilweise freien Wahlen im gesamten sowjetisch beherrschten Ostblock stattfinden. "Dieses Datum markierte in gewisser Weise einen Wendepunkt in meiner Biographie", sagt Merkel später.

In Bachotek fühlen sich alle frei, zensieren die eigenen Worte nicht. Wenn sie gerade nicht über Wissenschaft sprechen, diskutieren sie über Politik. Merkel sagt später, dass sie die Treffen in guter Erinnerung behalten habe.

Revolutionäre seien sie nicht gewesen, erzählt Jacek Karwowski. "Uns war klar, dass alles auf dem Weg eines natürlichen Systemwandels enden muss", betont er. "Angela sagte: 'Mir geht es nicht darum, dass es irgendwelche revolutionären Veränderungen gibt. Ich würde gerne, wenn ich Lust dazu habe, über die Grenze gehen und in einem Café im Westen Kaffee trinken. Ich würde doch nicht fliehen. Aber sie legen Stacheldraht aus. Wozu machen sie das? Ich würde nach Hause zurückkehren, aber eben auch gerne dorthin gehen, wohin ich will'", zitiert Karwowski aus dem Gedächtnis.

Ein anderer Teilnehmer der Sommercamps, Grzegorz Chałasiński, vermerkt, dass Merkel und ihr Partner Joachim Sauer die polnische Freiheitsbewegung Solidarność schon damals gut kannten. "Sie haben gehofft, dass sich daraus etwas Gutes entwickelt. Wir alle wollten, dass dieser Albtraum der DDR und der Polnischen Volksrepublik zu Ende geht", erinnert sich der Chemieprofessor.

Über Solidarność im Hauskreis

Der Anfang der 1980er Jahre ist für die polnischen Kollegen Merkels eine Zeit voller Hoffnung. Im Sommer 1980 entsteht die polnische unabhängige Gewerkschaft Solidarność, in der sie später aktiv werden.

Schon zu dieser Zeit hört Angela Merkel Details über Solidarność, obwohl die ostdeutsche Führung aufpasst, dass sich der "polnische Bazillus" nicht in der DDR ausbreitet. Merkel kommt zu Treffen, die der Grafiker Stefan Dachsel einmal im Monat organisiert. "Es war verboten, Organisationen zu gründen, also haben wir uns als Hauskreis getroffen. Immer in der Wohnung eines anderen Mitglieds. Das ist bis heute so", sagt Dachsel, damals engagiert in der Evangelischen Kirche, heute auch CDU-Politiker. Zu den Treffen kommen Absolventen verschiedener Hochschulen und Fachrichtungen. Auch Angela Merkel ist Anfang der 1980er Jahre einige Male dabei.

Polen Universität Warschau
Angela Merkel (vorne, 6. von re.) und Joachim Sauer (im Stehen, 1. Reihe, 7. von li.) - Sommerschule in BachotekBild: arch. Instytut Fizyki UMK

Im Hauskreis können sie unzensiert diskutieren. Sporadisch redet man über Solidarność, Streiks in Polen und über die Gesamtlage dort. "Es war wichtig für uns, denn wir hatten noch die Niederschlagung des Volksaufstandes in der DDR 1953 und den Prager Frühling 1968 in Erinnerung", sagt Dachsel. Damals vermutet in dem Kreis noch niemand, dass Solidarność einmal eine zentrale Rolle beim Fall der realsozialistischen Diktaturen spielen wird.

Zwischenfall an der Grenze

Als die Solidarność schon im Aufschwung ist, reist Merkel 1981 dreimal nach Polen, stellen die Biografen Ralf Georg Reuth und Günther Lachmann fest. Sie fährt im Rahmen der Freien Deutschen Jugend (FDJ). Auch sie hat zu der Zeit in der Jugendorganisation, die sich als "Kampfreserve der SED" versteht, eine Funktion inne. Die dritte Reise jedoch ist privat. Zusammen mit einem damaligen Kollegen ist sie in Danzig/Gdańsk und Marienburg/Malbork, unterwegs auf den Spuren von Solidarność, aber auch der Familie. Merkels Mutter stammt aus dieser Gegend.

Am 12. August fahren sie zurück. An der Grenze bei Frankfurt/Oder kontrollieren die DDR-Grenzer nicht nur ihre Papiere, sondern auch Merkels Tasche. Dort finden sie Solidarność-Material: zwei Fotos des Denkmals für die getöteten Arbeiter des Aufstandes von 1970, eine Zeitschrift und ein Abzeichen, schreiben die Biografen und zitieren dabei eine entsprechende Meldung. "Der Bürgerin war nicht bekannt, dass solche Gegenstände zur Einfuhr in die DDR nicht zugelassen sind", melden die Beamten. Der Vorfall wird später Anlass misstrauischer Kommentare, denn er hat für Angela Merkel keine negativen Folgen.

"Ich werde nie vergessen, wie ich von einer Reise aus Danzig kam und mich mit einer Beamtin des DDR-Zolls beim Grenzübertritt darum stritt, ob eine Postkarte des Denkmals vor der Danziger Werft eine politische Provokation ist oder den Status einer Postkarte hat", sagte Merkel dreißig Jahre später. Alles, was in einer Stadt stehe, könne auf einer Postkarte abgebildet werden, habe sie der Beamtin gesagt, so Merkel, doch die sei anderer Meinung gewesen und habe die Postkarte einkassiert. "Aber das konnte Solidarność nicht ungeschehen machen", betonte Merkel. "Insbesondere für uns Bürger der ehemaligen DDR war die Gewerkschaft Solidarność seit ihrer Gründung 1980 ein Symbol der Hoffnung, Hoffnung auf Veränderung und Hoffnung auf Freiheit, die nicht auf Dauer unterdrückt werden kann."

In Templin über Politik

In der DDR trägt diese Hoffnung nur langsam und ganz anders als in Polen Früchte. Die treibende Kraft ist nicht eine Bewegung wie Solidarność. Treibende Kraft sind kleine Friedens- und Umweltgruppen, zumeist unter dem Dach der Evangelischen Kirche. Sie ist eine der wenigen Institutionen, in der man sich bei Workshops, Friedensgebeten oder so genannten Bluesmessen frei begegnen kann.

Auch die Treffen in Templin in Brandenburg, veranstaltet von Merkels Vater, dem evangelischen Pfarrer Horst Kasner, versammeln mit der Zeit einen Teil der DDR-Opposition. "Zum großen Teil dank Angelas Bruder, dem Physiker Marcus Kasner", sagt der emeritierte Theologieprofessor Christofer Frey. Der mit den Kasners befreundete Professor aus Bochum leitet die Gespräche, die jedes Jahr eine Woche lang dauern. Angela Merkel ist manchmal dabei.

Ende der 1980er, als die Zeiten sehr brenzlig werden, diskutieren die Theologen und Naturwissenschaftler über die kommenden Großdemonstrationen. "Wir haben nächtelang debattiert. Wird die DDR-Armee eingreifen? Oder die Sowjetunion?", erinnert sich Frey.

Polen Universität Warschau
Angela Merkel (im Bild re.) - Sommerschule für fortgeschrittene Quantenchemie in Bachotek (Polen, 1989)Bild: arch. Instytut Fizyki UMK

"Eine unmittelbar politische Rolle hatten diese Treffen nicht, aber sie waren eine Art Selbstvergewisserung und natürlich ein Ort ungestörten Austausches", sagt Marcus Kasner. Später werden einige Teilnehmer dieser Treffen eine wichtige Rolle in der friedlichen Revolution von 1989 spielen, Bürgerbewegungen und eine Oppositionspartei gründen. In Templin reden sie über die Bewahrung der Schöpfung, über Frieden, Grundrechte und Ökologie, auch letzteres ein Tabu-Thema in Erich Honeckers Staat.

Und manchmal kommt das Gespräch unweigerlich doch auf die Politik und die Ereignisse im Nachbarland Polen, "in das wir zu dieser Zeit nicht mehr so einfach reisen konnten", erinnert sich Marcus Kasner. Er selbst fährt nicht zu den wissenschaftlichen Treffen in Bachotek, kennt aber die Aufenthalte aus den Erzählungen seiner Schwester.

"Eine gute und solide Wissenschaftlerin"

In Bachotek stellt sich Merkel nie in den Vordergrund, aber trotzdem bemerkt man sie, erinnert sich Karwowski. "Sie war sehr sachlich und nahm das, was sie tat, ernst", fügt er hinzu. Zudem ist sie sehr pflichtbewusst. "Einige haben geschwänzt und fuhren Kajak oder machten eine Waldwanderung. Ich kann mich an keine Situation erinnern, in der Angela Merkel einen Vortrag ausließ. Sie war eine gute und solide Wissenschaftlerin", so der polnische Ex-Kollege.

Auch Grzegorz Chałasiński denkt gerne an die Tage in Bachotek zurück. Seit damals ist er mit Joachim Sauer, dem Ehemann von Angela Merkel, befreundet. 2007 besucht er das Paar in Berlin, es gibt ein Abendessen in ihrer Berliner Wohnung. Angela Merkel ist seit zwei Jahren Bundeskanzlerin. "Das war ein großes Erlebnis für mich. Sie leben so bescheiden. Wir verbrachten einen netten Abend. Es war wie früher, ohne Zeitdruck", sagt der Chemieprofessor.

Den verbotenen Film sieht sie in Polen

Überhaupt fährt Merkel in den 1980ern gern nach Polen. Als Karwowski sie einmal fragt, was sie besonders an dem Nachbarland schätze, antwortet sie: Sie habe viel von den Polen gelernt und die Sommertreffen in Bachotek seien für sie auch politische Schulungen gewesen. Aber es gab auch bodenständige Gründe, wie Merkels offenkundige Vorliebe für Korbwaren. Auf dem Weg nach Bachotek kaufte sie regelmäßig Körbe und andere Flechtware, wie sich ihre polnischen Begleiter erinnern.

Vielleicht fühlte sie sich in Polen auch freier. 1989 nimmt Karwowski seine deutsche Kollegin mit ins Kino. Sie schauen die Verfilmung des Romans "Die Blechtrommel" von Günter Grass. In der DDR war der Film damals verboten.

Nach einem sechstägigen Aufenthalt in Polen im November 1989 bringt Karwowski Merkel zum Bahnhof. Am Vortag hatten sie die regionale Solidarność-Zweigstelle besucht. Merkel hat dort eine Spendenbüchse gesehen. Nun, auf dem Bahnhof, gibt sie Karwowski den Rest ihres Reisegeldes und bittet ihn, dass er es in diese Büchse hineinwirft. "Sie traf solche Entscheidungen nicht spontan, aus dem Nichts. Es war alles überlegt", schlussfolgert der Professor und erkennt darin eine Analogie zum Regierungsstil der heutigen Kanzlerin.

Ein Treffen nach Jahren 

Merkels Besuch in Thorn im Herbst 1989 ist nicht ihr letztes Treffen mit Jacek Karwowski. Nach Jahren regt sie ein Treffen in Warschau an. Es ist das Jahr 2007 und Merkel steht an der Spitze der deutschen Regierung. "Sie ist gealtert, aber als Mensch war sie so wie früher, klug und in die Zukunft schauend. Was sich aber verändert hat, war ihre Kleidung. Sie tauschte ihren ausgeleierten Pullover für elegante Kleider", sagt Karwowski.

Großdemonstration in Ostberlin
"Nehmt der STASI Gelder weg!" - Großdemonstration in Ostberlin, 4. November 1989Bild: picture-alliance/ZB/P. Zimmermann

Sie sind bis heute befreundet. Der Thorner Professor bewahrt ihre Briefe sorgfältig auf. "Ich bin stolz, eine Person zu kennen, die wahrscheinlich die hervorragendste Politikerin der Welt ist", schwärmt er.

Eine Staatsfrau, für die auch Solidarność ein Wegweiser war, wie Angela Merkel in einem Podcast in diesem Jahr anlässlich von vier Jahrzehnten polnischer Gewerkschaftsbewegung betonte. Die Frauen und Männer der Solidarność hätten bereits zehn Jahre vor der Wiedervereinigung "den Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtlern in der DDR den Weg gewiesen. Ihr Freiheitswille hat Steine ins Rollen gebracht, die letztlich auch die Berliner Mauer und den Eisernen Vorhang zu Fall brachten".

Aus der Beitragsreihe "Zeit der Solidarność". Ein Projekt von DW Polnisch mit Newsweek Polska.

Kommentarbild Katarzyna Domagala-Pereira
Katarzyna Domagala-Pereira Journalistin und Publizistin, stellvertretende Leiterin von DW-Polnisch.