Mexiko steht Entführungen machtlos gegenüber
10. September 2018Coahuila, der mexikanische Bundesstaat an der Grenze zum US-amerikanischen Texas, ist zum Zentrum der mexikanischen Entführungsindustrie geworden. Hier hat sich das organisierte Verbrechen besonders breitgemacht; 42 Prozent aller Entführungen in Mexiko finden hier statt. Banden von Drogenschmugglern lassen Menschen gewaltsam verschwinden und üben so Macht über die verängstigte Bevölkerung aus.
Hugo Marcelino Gonzalez Salazar, der Sohn von María Elena Salazar, ist einer von 37.435 Menschen, die in Mexiko vermisst werden. "Ich bin gleich wieder da" - das waren seine letzten Worte, die sie am Telefon hörte, bevor er vor neun Jahren in Coahuila verschwand.
"Ich wurde Aktivistin"
Auf dem Polizeirevier in Torreon im Süden des Bundesstaates sagte man ihr: "Machen Sie sich keine Sorgen; er ist bald wieder da." In Torreon traf sie auf eine Gruppe von Müttern, die auf ihre Fragen ähnliche Antworten bekommen hatten. Zusammen gründeten sie die Bürgerbewegung FUNDEC, in der sich 150 Familien aus Coahuila zusammengefunden haben. Die Gruppe fordert, dass die Behörden endlich etwas gegen die Entführungen unternehmen.
"Am Tag, als er verschwand, wurde ich zur Aktivistin", sagte María Salazar der Deutschen Welle. Sie untersuchte das Verschwinden ihres Sohnes, trug Akten zusammen und verfolgte auf eigene Faust Spuren; sie hängte sogar Plakate mit Suchaufrufen auf, die dann - sagt sie - von den Behörden wieder abgerissen worden seien. "Sie wollen nicht, dass alle merken, was für ein großes Problem das ist", sagt Salazar.
Ihr Ehemann fuhr die Straßen ab, wo Gerüchten zufolge die Entführer ihre Opfer ablegen, aber er fand nichts. Bei ihrer Suche lernte Salazar auch, dass Vermissten in Mexiko oft ein Stigma angehängt wird: "Wenn ihm etwas passiert ist, dann war er wohl selbst in dunkle Geschäfte verwickelt", sagten Nachbarn zu ihr. Salazar meint, diese Ideen würden von den Behörden verbreitet, "um sich nicht ihrer Verantwortung stellen zu müssen".
Seit Jahren beteiligen sich Angehörige der Opfer in Coahuila an den Suchaktionen der örtlichen Untersuchungsbeamten. Mit Schaufeln bewaffnet, haben sie die verbrannten Überreste von Hunderten von Mordopfern ausgegraben; das organisierte Verbrechen sorgt so dafür, dass die Opfer nicht identifiziert werden können und spurlos verschwunden bleiben. "Allein in Coahuila haben die Behörden die Überreste von 120.000 Menschen gesichert; nur 20 von ihnen konnten ordnungsgemäß identifiziert werden", sagt Grace Fernandez von FUNDEC der Deutschen Welle. "Es fehlen die Mittel und für Identifizierungen ausgebildetes Personal; die Labore sind überlastet."
Eine überforderte Justiz
Die mexikanische Behörde für die Suche nach Vermissten ist überfordert. Gerade einmal 29 Beamte der Staatsanwaltschaft und 58 Polizisten bearbeiten auf Bundesebene mehr als 1000 Fälle. Angehörige von Entführungsopfern kritisieren den Einsatz gegen Entführungen als mangelhaft und nennen die neu ins Leben gerufene Behörde "unzureichend". Abel Galvan, Vertreter der Behörde, verteidigt die Maßnahmen der Regierung. Der DW sagte er, dass die Regierung im kommenden Jahr 100 weitere Stellen einrichten und sich so der "titanischen Herausforderung" stellen wolle, neue Gesetze gegen das Kidnapping durchzusetzen.
Eines der Hauptprobleme im Kampf gegen das gewaltsame Verschwindenlassen von Menschen ist, die Schuldigen zur Verantwortung zu ziehen, sagt Humberto Guerrero, der sich beim Forschungszentrum Fundar mit Menschenrechtsfragen befasst. "In mehr als 37.000 Vermisstenfällen gab es nur zwölf Verurteilungen", sagte er der DW. Aus seiner Sicht sind Duldung oder aktive Beteiligung von Behördenmitarbeitern an den Verbrechen schuld an der niedrigen Zahl von Verurteilungen. "Die Behörden ermitteln nicht gegen sich selbst", sagte er.
Dies war auch der Fall, als Grace Fernandez' Bruder im Jahr 2008 verschwand; zwei Polizisten waren in den Fall verwickelt. Fernandez und Salazar suchen nun nicht mehr nach ihren Angehörigen; sie versuchen, mit der Hilfe internationaler Organisationen wie den Vereinten Nationen politischen Druck auszuüben.
"Es hat keinen Sinn, überall zu suchen, wenn wir die Überreste nicht identifizieren können und die Schuldigen nicht bestraft werden", sagte Salazar.
Aus Mexiko, wo alle zwei Stunden ein Mensch verschwindet, stammen inzwischen 66 Prozent der 500 dringendsten Suchanfragen, die in den letzten sechs Jahren den Vereinten Nationen vorgelegt wurden; damit liegt das Land in der Statistik vor dem Irak und Kolumbien.
Salazar hat sich vorgenommen, ihren Kampf für Gerechtigkeit und Verantwortlichkeit fortzusetzen; vor Gegenschlägen hat sie keine Angst. "Mir kann nichts Schlimmeres als das Verschwinden meines Sohnes passieren, und solange ich lebe, werde ich fordern, dass Hugo nach Hause kommt", sagt sie.