Mexikos konfuser Kampf gegen COVID-19
18. August 2020Das Meme ist ein Dauerbrenner in den sozialen Netzwerken in Mexiko: Es zeigt Hugo López-Gatell, den Chef-Epidemiologen der Regierung, daneben die Worte: "Der Höhepunkt der Pandemie wird nächste Woche erreicht, egal, wann du das hier liest." Nicht nur Internet-User kritisieren das Pandemiemanagement der Regierung, sondern auch Gesundheitsexperten.
Zuerst habe die Regierung die Pandemie heruntergespielt, sagt Mexikos ehemaliger Gesundheitsminister Julio Frenk. Dann habe sie auf mathematische Simulationen gesetzt, um das Infektionsgeschehen zu untersuchen, statt auf Tests. Eine konfuse Kommunikationsstrategie verunsichere die Bevölkerung zusätzlich: Während Chef-Epidemiologe López-Gatell die Nutzung von Atemschutzmasken zeitweise als unnütz bezeichnete, befürwortet er sie mittlerweile. Und Präsident Andrés Manuel López Obrador lehnt sie weiterhin ab. "Die Menschen misstrauen deshalb der Regierung und gehen erst ins Krankenhaus, wenn es schon zu spät ist", sagt Frenk, der inzwischen Präsident der Universität von Miami in Florida ist.
Infektionen auf Rekordkurs
In der Tat schiebt sich das Land in den Statistiken schier unaufhaltsam in die Spitzengruppe der betroffenen Länder: Mehr als eine halbe Million Mexikaner sind infiziert und 56.543 Tote (Stand 16.08.2020) mit dem Virus gestorben. Damit liegt Mexiko bei den Infektionen auf Platz sieben weltweit und auf Platz drei bei den Todeszahlen - nach den USA und Brasilien.
Seit Anfang Juli infizieren sich nach offiziellen Zahlen jeden Tag circa 5000 Menschen mit dem Coronavirus. Die Regierung feiert die Konstanz als Erfolg und zitiert aufmunternde Schreiben der Weltgesundheitsorganisation.
Malaquías López Cervantes, Leiter der Forschungseinheit für soziomedizinische Studien der staatlichen Autonomen Universität von Mexiko (Unam), hat dafür wenig Verständnis: "Mexiko steht in der Corona-Krise ebenso schlecht da wie Brasilien", sagte er der DW. Das südamerikanische Land gilt neben den USA als globaler Hotspot der Pandemie. Fast 110.000 Menschen sind dort als COVID-19-Opfer registriert.
Ohne Tests im Blindflug
Tatsächlich liegt die Letalitätsrate, also die Zahl der Todesfälle im Verhältnis zu den Infizierten, in Mexiko sogar fast doppelt so hoch wie in Brasilien - nach einer Studie der Johns-Hopkins-Universität in Mexiko bei 11,9 Prozent. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) liegt dieser Wert nur in Italien (14,5 Prozent) und Großbritannien (14 Prozent) noch höher.
Chef-Epidemiologe López-Gatell hält diesen Vergleich für nicht aussagekräftig: Die Letalitätsrate liege in Mexiko nur deshalb so hoch, weil das Land so wenig teste. Sprich: Würde man mehr Menschen mit schwachen Symptomen testen, tauchten auch mehr Genesene in der Statistik auf und ließen die Letalitätsrate sinken.
Genau darin aber sehen Gesundheitsexperten einen der Schwachpunkte der mexikanischen Strategie. Das mathematische Modell der Regierung tauge wenig, kritisiert Frenk: "Mit diesem Modell sind wir im Blindflug unterwegs." Eine Ausweitung der Testkapazitäten und eine Nachverfolgung der Infektionsketten dagegen seien vielversprechend und international erfolgreich.
Sparzwang und Vorerkrankungen: ein tödlicher Cocktail
Dass dies nicht geschehen ist, sagt Soziomediziner López Cervantes, liege möglicherweise daran, dass sich die Regierung selbst ein striktes Sparprogramm auferlegt hat und kein Geld für großflächige Tests ausgeben will.
Zudem habe die Pandemie Mexiko inmitten einer "wirren Umstrukturierung" getroffen, erklärt Frenk: Die Gesundheitsbehörden waren durch den Sparzwang bereits ausgeblutet. Auch war die bisherige Volkskrankenversicherung aufgelöst, ein neues System gab es aber noch nicht.
Nun scheint Mexikos Präsident López Obrador darauf zu hoffen, dass es entweder bald einen Impfstoff gibt - den Mexiko zusammen mit Argentinien und dem Labor AstraZeneca produzieren will. Oder dass eine Herdenimmunität eintritt, nachdem 70 Prozent der Bevölkerung infiziert waren. Beides hält Soziomediziner López Cervantes in diesem Jahr für wenig wahrscheinlich.
Vorsorglich wälzt Chef-Epidemiologe López-Gatell die Schuld aber schon einmal ab auf die Mexikaner: Sie seien übergewichtig und litten durch zu hohen Zuckerkonsum an Bluthochdruck und Diabetes - zwei Faktoren, die einen tödlichen Verlauf der Pandemie begünstigen. "Die Schuld auf die Opfer abzuwälzen, ist ein klassisches Manöver populistischer Regierungen", meint Ex-Minister Frenk.