"Grenzverschiebungen wären brandgefährlich"
21. April 2021DW: Herr Staatsminister, gerade sind Grenzziehungen auf dem Westbalkan wieder in aller Munde. In den Medien wird über ein "Non-Paper" der slowenischen Regierung berichtet. Was weiß die Bundesregierung darüber?
Michael Roth: Grenzverschiebungen lösen kein einziges Problem im Westlichen Balkan, ganz im Gegenteil. Sie wären brandgefährlich und drohten die besonders konfliktträchtige Büchse der Pandora wieder zu öffnen. Dafür muss man kein Prophet sein.
Gegenwart und Zukunft des Westlichen Balkan liegen in Versöhnung, in enger regionaler Kooperation, in einer endgültigen Abkehr von Nationalismus und Revanchismus. Die Westbalkan-Staaten sind und bleiben Heimat multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften. Das ist die Voraussetzung für Frieden, Wohlstand und Demokratie.
Daher bin ich beruhigt, dass sich die slowenische Regierung klar und deutlich von Grenzveränderungs-Fantasien distanziert hat. Denn daran kann niemand in Europa ein Interesse haben.
Schließen Sie also aus, dass der Vorschlag in irgendeiner Form auf den Verhandlungstisch kommen wird?
Wir leben in einer freiheitlichen Demokratie und natürlich ist es jedem unbenommen, mit eigenen Vorschlägen Debatten anzustoßen. Aber das ändert nichts an unserer unmissverständlichen Ablehnung solcher Ideen.
Nochmal: Grenzziehungen sind ein gefährlicher Irrweg für die Region, daran kann heute niemand auf dem Westlichen Balkan und in der EU ernsthaft Interesse haben. Die Erinnerungen an die blutigen Balkan-Kriege der 90er Jahre, die das ehemalige Jugoslawien in ein riesiges Schlachtfeld verwandelten, sollten uns allen Mahnung genug sein. Meine Position ist klar: Grenzverschiebungsfantasien gehören endgültig in die Mottenkiste einer gescheiterten Vergangenheit.
Gibt es überhaupt Kollegen in der EU, die derartige Lösungen befürworten?
Die Erweiterungsstrategie und die Westbalkanstrategie der Europäischen Union sehen keinerlei Grenzziehungen vor. Das ist gut so, und das muss auch so bleiben!
Einen Beitrag in Richtung Stärkung der regionalen Kooperation leistet der Berlin-Prozess. Im Sommer wird es voraussichtlich ein letztes Treffen der Regierungschefs der Westbalkan-Länder mit der deutschen Bundeskanzlerin, Angela Merkel, geben. Wie soll es mit der Initiative weitergehen?
Der Berlin-Prozess hat ein wichtiges Signal in die Region gesetzt: dass wir an der Seite der Menschen in der Region stehen und unabhängig von Beitritten alles dafür tun, die Stabilität des Westlichen Balkans zu befördern. Und zwar jetzt!
Und wir bemühen uns nach wie vor ganz besonders um eine bessere regionale Kooperation, um Perspektiven für junge Menschen, um Beschäftigung und sozialen Zusammenhalt. Auch Fragen von Gesundheit, Infrastruktur und Digitalisierung spielen natürlich eine ganz wichtige Rolle. Deshalb ist es gut, dass wir den Berlin-Prozess engagiert fortsetzen.
Gerade jetzt spüren wir, wie wichtig es ist, dass die Europäische Union weiterhin als enger, verlässlicher und kluger Partner des Westlichen Balkans wahrgenommen wird - nicht nur in den Augen der Politik, sondern vor allem auch in der Wahrnehmung der Bürgerinnen und Bürger vor Ort. Denn es gibt auch Enttäuschungen, sei es mit Blick auf unzureichende Reformen zur Stärkung des Rechtsstaates oder im Kampf gegen Korruption.
Bei der Bewältigung der Corona-Pandemie fühlen sich manche von der EU nicht gut genug unterstützt. Ich freue mich daher, dass die Europäische Union jetzt ein klares Signal der Solidarität aussendet: Ab Mai liefern wir erneut 650.000 Impfdosen für die Länder des Westbalkans. Der Berlin-Prozess muss nämlich immer auch mit konkreten und spürbaren Projekten unterlegt sein, die von den Menschen vor Ort positiv wahrgenommen werden. Sie müssen für die Bürgerinnen und Bürger der Region spürbar sein und die Lebensverhältnisse nachhaltig verbessern.
Der Berlin-Prozess wird ja auch als Warteraum für die EU-Mitgliedschaft bezeichnet. Können Länder auf dem Westbalkan hoffen, dass unter der slowenischen EU-Ratspräsidentschaft in der zweiten Hälfte dieses Jahres die Erweiterungsfortschritte erzielt werden, die unter der deutschen Ratspräsidentschaft im letzten Jahr nicht erreicht werden konnten?
Wir haben uns in der deutschen EU-Ratspräsidentschaft sehr angestrengt, haben nichts unversucht gelassen. Aber Voraussetzung für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien ist nun mal ein Konsens im Rat. Den haben wir aufgrund der Blockade eines einzigen Landes nicht erzielen können. Das war bitter, aber wir geben nicht auf!
Ich bin der portugiesischen Ratspräsidentschaft sehr dankbar, dass sie diesen Prozess jetzt fortsetzt. Wir hatten beispielsweise gestern im Rat der Europaministerinnen und Europaminister eine Unterrichtung über die derzeitige Lage im Westlichen Balkan. Im Mai und Juni soll das Thema Westbalkan bzw. Erweiterung insgesamt Schwerpunkt in den Ratssitzungen der Außen- sowie der Europaministerinnen und -minister werden. Da brauchen wir dann endlich "grünes Licht" für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen. Ich werde mich jedenfalls nach Kräften dafür einsetzen.
Die EU muss ihr Wort halten und darf den Beitrittsprozess für diese Länder nicht auf die lange Bank schieben. Wir brauchen dringend und mehr positive Signale für die Region! Auf dem Spiel steht nicht weniger als die Glaubwürdigkeit der EU. Und gerade die vergangenen zwölf Monate haben doch gezeigt, dass die EU auf dem Westlichen Balkan Systemrivalen hat, die in die Lücken vorstoßen, die wir ihnen lassen. Es liegt in unserem wohlverstandenen Eigeninteresse, die Region immer enger an uns zu binden.
Die Fragen zwischen den Völkern, wie etwa in Kosovo oder Bosnien-Herzegowina, sind dennoch noch nicht gelöst. Was sollte man tun, damit derartige Grenzziehungsvorschläge keinen Nährboden finden?
Ich freue mich auf eine gute Zusammenarbeit mit der neuen Regierung im Kosovo. Die Kurti-Regierung hat ja ein sehr ambitioniertes Programm im Kampf gegen Korruption und zur Stärkung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit vorgelegt. Das ist ein starkes Signal, und die Regierung kann dabei auf unsere Unterstützung zählen.
Zudem setzt sich Deutschland auch weiterhin entschieden dafür ein, dass den Kosovarinnen und Kosovaren endlich die in Aussicht gestellte Visa-Liberalisierung zuteilwird. Ich hoffe, dass wir im Kreise der EU alsbald den benötigten Durchbruch erzielen werden und dann Nägel mit Köpfen machen. Schließlich droht ein Ziel, das sich immer wieder entfernt, zur Fata Morgana zu werden - und damit auch, seine Anziehungs- und Transformationskraft zu verlieren.
Und was Bosnien-Herzegowina anbelangt, ist klar: Über alle gesellschaftlichen Gräben hinweg steht eine überwältigende Mehrheit der bosnischen Bevölkerung hinter einem gemeinsamen Ziel: einer Zukunft in der EU. Aber ebenso klar ist auch: Das Land muss nun entschlossen die so dringend notwendigen Reformen angehen, um auf dem Weg von Dayton nach Brüssel schneller voranzukommen. So gilt es etwa, die Wahlrechtsreform so auszugestalten, dass sie zur Versöhnung und zur Kooperation beiträgt und nicht zur weiteren Spaltung.
Michael Roth ist langjähriger Parlamentarier der SPD im Bundestag und seit 2013 Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt.