Migranten in Irland - in Plastikzelten zwischen den Fronten
18. Mai 2024Im Zentrum von Dublin glitzern die repräsentativen Bürobauten vieler Weltkonzerne. Doch am Fuß der modernen Glasfassaden sieht man immer häufiger: Zelte. Einige davon gehören Obdachlosen, denn der Wohnraum ist im ganzen Land knapp und in der boomenden Hauptstadt für viele schlicht unbezahlbar. Die Wohnraumkrise ist derzeit ein beherrschendes Thema in Irland. Bei seinem Amtsantritt im April versprach der neue Regierungschef Simon Harris 250.000 neue Wohnungen bis zum Ende des Jahrzehnts.
Die zweite Gruppe derer, die in Zelten schlafen, sorgt für ein weiteres beherrschendes Thema in der nordwesteuropäischen Inselrepublik: Irland sieht sich mit einer wachsenden Zahl von Migranten konfrontiert, und nicht zuletzt wegen der Wohnraumkrise geraten die Unterbringungskapazitäten an ihre Grenzen. Verschärft wird die Lage durch Russlands Invasion in der Ukraine - seit Kriegsbeginn wurden mehr als 100.000 ukrainische Flüchtlinge in Irland registriert, die gemäß einer EU-weiten Abmachung nicht erst Asyl beantragen müssen.
Die irische Regierung räumt offen ein, nicht alle Asylsuchenden beherbergen zu können, während ihr Antrag bearbeitet wird. Laut ihren Angaben konnten Stand 14. Mai 1780 männliche Antragsteller noch nicht untergebracht werden.
Rund um das International Protection Office (IPO) in Dublin, das für die Bearbeitung von Asylanträgen zuständig ist, hatte sich eine regelrechte Zeltstadt gebildet, in der junge Männer schliefen, sich auf der Straße waschen und kochen mussten und zum Beispiel auf Fahrrad-Leihstationen angewiesen waren, an denen sie per USB-Kabel ihre Handys aufladen konnten. Am 1. Mai räumten die irischen Behörden das Camp und verteilten 285 männliche Asylsuchende auf zwei Notaufnahme-Einrichtungen. Seitdem wurden in der Nachbarschaft des IPO mehrfach neue Zeltsiedlungen errichtet und erneut geräumt.
Mehr Fremdenfeindlichkeit, mehr Asylanträge
Diese Zustände hallen auch in der historisch sehr offenherzigen irischen Gesellschaft wider: Seit Monaten werden auf Demos Sprüche wie "Irland ist voll" gerufen; Ende 2023 gab es in Dublin Randale. In mehreren Landesteilen gab es seitdem sogar Brandanschläge auf Gebäude, die zu Flüchtlingsunterkünften umfunktioniert werden sollten. Einer aktuellen Umfrage im Auftrag der "Irish Times" zufolge fordern inzwischen 63 Prozent der Bevölkerung eine schärfere Migrationspolitik.
Im vergangenen Jahr wurden in Irland rund 12.300 Asylanträge gestellt. Seitdem steigen diese Zahlen rapide: Die "Irish Times" berichtete unter Berufung auf einen Oppositionspolitiker, die Regierung stelle sich auf über 20.000 Anträge in diesem Jahr ein. Umgelegt auf die gut 5 Millionen Einwohner Irlands ergibt sich dadurch ein ähnliches Niveau wie in Deutschland.
Neuer Treiber: Großbritanniens kontroverses "Ruanda-Gesetz"
Die irische Regierung macht in den vergangenen Wochen noch einen weiteren Faktor aus, der in der Republik zu mehr Asylanträgen führt: das kontroverse Gesetz im benachbarten Vereinigten Königreich, wonach irregulär eingereiste Migranten ins ostafrikanische Ruanda abgeschoben werden sollen, wo dann über einen lokalen Schutzstatus entschieden wird. Die konservative Regierung von Premier Rishi Sunak setzt sich damit über ein Gerichtsurteil hinweg und drohte bereits an, mögliche Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu ignorieren.
Das wird mit einem anderen Urteil nicht ohne weiteres möglich sein: Am 13. Mai setzte ein Hohes Gericht in Belfast das "Ruanda-Gesetz" für Nordirland außer Kraft. Es sieht darin das "Windsor Framework" verletzt, dass die britisch-europäischen Beziehungen nach dem Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union regelt. Der Rechtsprofessor Colin Murray, der in Belfast lebt und an der Universität Newcastle doziert, sagte dazu der DW: "Als Teil des Brexit-Deals bleiben EU-Gesetze zum Schutz von Asylsuchenden in Nordirland in Kraft - genau wie alle EU-Grundrechte, auf die sich das Karfreitagsabkommen von 1998 bezieht."
Der Brexit verkompliziert die Lage
Das Karfreitagsabkommen befriedete den jahrzehntelangen blutigen Konflikt zwischen London-treuen Unionisten und pro-irischen Republikanern in Nordirland. Es sieht unter anderem auch eine offene Grenze zur Republik Irland vor. Solange der Norden wie der Süden der EU angehörte, war das kein Problem: Menschen und Waren bewegten sich in einem einheitlichen Rechts- und Wirtschaftsraum. Weil eine spürbare Grenze den Frieden in Nordirland gefährden würde, musste sich Großbritannien im Zuge seines EU-Austritts zähneknirschend damit arrangieren, dass in Nordirland beispielsweise bestimmte EU-Regularien weiter gelten.
Das Belfaster Urteil bedeutet aber nicht das Aus für das "Ruanda-Gesetz" im gesamten Vereinigten Königreich: "Es bleibt in den übrigen Landesteilen ein gültiges Gesetz und wird als solches angewandt", sagt Jurist Murray. Aber: "So wird es schwieriger, die Einwanderungspolitik praktisch umzusetzen - bislang wurden Asylsuchende einfach im gesamten Vereinigten Königreich verteilt. Wenn sie nun nach Nordirland kommen, erhalten sie zusätzliche Rechte."
Viele kommen über Nordirland - und London stellt sich quer
Bereits vor dem Urteil versuchten viele von ihnen vom Norden in die Republik zu gelangen, wo keine Abschiebung nach Ruanda droht. Nach Angaben der irischen Justizministerin Helen McEntee gelangen aktuell 80 Prozent aller Asylsuchenden auf diesem Weg ins Land, seit Jahresbeginn bereits mehr als 6000 Personen. Ihr Kabinett sucht angesichts der momentanen Überforderungen nach Wegen, die Migranten zurück nach Großbritannien zu bringen.
Irlands Regierungschef Harris erinnerte Sunak an ein 2020 geschlossenes Abkommen, wonach Großbritannien sich zur erneuten Aufnahme von Migranten verpflichte, die aus dem Norden in die Republik einreisten. Sunak konterte, das Abkommen regle nur Verfahrensfragen und beinhalte keine rechtlich bindenden Zusagen. Der konservative Politiker, dem schon in einigen Monaten die Abwahl droht, fordert stattdessen weitere EU-Staaten wie Frankreich zur Rücknahme von Migranten auf.