Weiße Fahnen und rote Mützen
23. November 2018Seine weiße Fahne hat Jose Rodriguez aus Siguatepeque bereits seit über 3000 Kilometern dabei. "Ich habe zwei Kinder in Honduras. Ihnen möchte ich ein besseres Leben ermöglichen", sagt der 29jährige Familienvater im Gespräch mit der Deutschen Welle. Die weiße Fahne ist so etwas wie ein Markenzeichen der Migranten, die sich Mitte Oktober von San Pedro Sula (Honduras) auf den Weg Richtung Vereinigte Staaten machten. "Die Fahne steht dafür, dass wir friedlich unterwegs sind, dass wir gute Absichten haben", erklärt Rodriguez.
"Lasst uns rüber"
Auch am Donnerstag flattert die Fahne, die Rodriguez durch Guatemala und den gefährlichen Süden Mexikos getragen hat, im Wind - diesmal gegenüber der Grenzstation El Chaparral in Tijuana. Mit Rodriguez sind mehr als 300 Migranten gekommen und demonstrieren dafür, dass ihr Antrag auf politisches Asyl von den US-Behörden aufgenommen wird. "Wir können nicht länger warten", rufen die Migranten. "Lasst uns rüber." Die mexikanischen Sicherheitskräfte haben das Gelände weiträumig abgesperrt, eine Zufahrtsstraße ist blockiert. Das sorgt für ein Verkehrschaos in der Grenzstadt Tijuana, denn in den USA wird an diesem Tag Thanksgiving gefeiert, und der Grenzverkehr ist besonders stark.
Viele Einwohner der Stadt beobachten die Demonstration an der Grenzstation wütend, einige tragen rote Mützen mit der Aufschrift: "Make Tijuana great again" in Anlehnung an den Wahlkampf von US-Präsident Donald Trump. Bereits am vergangenen Sonntag gab es Proteste gegen eine unkontrollierte Zuwanderung nach Tijuana: "Invasion nein, Migration ja", riefen rund 1000 Demonstranten. Zahlreiche Mexikaner klatschten dem Protestzug Beifall. Bis zu 7000 zusätzliche Migranten sollen im Laufe der kommenden Woche eintreffen, berichten die Lokalzeitungen.
Lager im Schlamm
Inzwischen ist die Stimmung angespannt bei den rund 5000 Migranten, die es mit der ersten Karawane aus Honduras nach Tijuana geschafft haben. Fahnenträger Jose Rodriguez sagt: "Es ist ein Chaos, es gibt keine Koordination, es gibt niemand, der uns die Richtung vorgibt. Alle laufen irgendwie los, wenn ein Gerücht die Runde macht." Ein heftiger Regen in der Nacht zum Donnerstag hat die Lage zusätzlich erschwert. Nun versinkt das Auffanglager auf dem Sportplatz Benito Juarez im Matsch. Die meisten Migranten müssen unter freiem Himmel schlafen. Viele Migranten sind krank; vor allem die rund 1000 Kinder leiden unter den katastrophalen Zuständen.
Derweil versucht die Regionalregierung alles, um die Migranten in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Luis Rodolfo Enriquez organisiert eine Jobbörse in der Nähe des Lagers. "Am ersten Tag kamen erst ein paar Dutzend, danach wurden es immer mehr Migranten, die sich nach offenen Stellen erkundigen. Wir mussten uns erst das Vertrauen der Migranten erarbeiten", berichtet Enriquez im Gespräch mit der DW. Zur Zeit gibt es rund 10.000 offene Stellen in der Stadt. Enriquez ist überzeugt: "Wir können fast die Hälfte der Menschen aus der Karawane auf dem Arbeitsmarkt unterbringen, wenn sie dies wollen, Ungelernte ebenso wie Spezialisten." In einem Gebäude des Salesianer-Ordens hat Enriquez Behörde ihr Lager aufgeschlagen: Plastikstühle, Holztische - alles improvisiert, aber gut organisiert. Es gibt hier alles aus einem Guss: Kontakt zu Arbeitgebern, die dringend Personal suchen, und zwei Gänge weiter bearbeiten Mitarbeiter der Migrationsbehörde Anträge auf vorläufige Arbeitsgenehmigungen. Die Stadt ist voll mit Läden, in deren Schaufenster Plakate hängen: "Mitarbeiter gesucht."
Mexikaner versuchen zu beschwichtigen
Auch bei der Demonstration vor dem Grenzübergang El Chaparral versuchen die mexikanischen Behörden die Migranten zu beruhigen: "Es gibt Arbeit in Tijuana, nutzt die Angebote", ruft ein Beamter den Migranten per Megaphon zu. Doch die meisten Migranten wollen lieber in die USA, wollen nicht in Mexiko bleiben. Fahnenträger Jose Rodriguez hat trotz der widrigen Umstände seinen Optimismus nicht verloren. "Ich darf die Hoffnung nicht verlieren. Ich will für meine Kinder eine bessere Zukunft. Deswegen werde ich nicht aufgeben."
In der Nacht spitzt sich die Lage am Grenzübergang El Chaparral zu. Einige Dutzend Migranten wollen die Nacht vor der Grenze verbringen. Während die Migranten nach Einbruch der Dunkelheit ihre Lage diskutieren, flimmern in einem Café unweit des Grenzübergangs die neuesten Nachrichten aus den USA über den Bildschirm. Zu sehen ist der amerikanische Präsident Donald Trump. In spanischen Untertiteln wird seine Botschaft an Mexiko übersetzt. Sollte die Situation an der Grenze außer Kontrolle geraten, will er die gesamte Grenze nach Mexiko schließen lassen. Danach meldet das mexikanische Fernsehen: Eine weitere Gruppe von Migranten hat das Übergangslager in Mexiko-Stadt verlassen. Am darauffolgenden Morgen räumen die Behörden das Übergangscamp. Die Massen hält das nicht auf: Stündlich kommen mehr Menschen an die Grenze. Ihr Ziel: Die Grenze zu den USA.