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PolitikUkraine

Militärhistoriker: Westen redet sich Ukraine-Krieg schön

Roman Goncharenko
10. November 2023

Der Westen ist auf einen Stellungskrieg Russlands gegen die Ukraine nicht vorbereitet, warnt der österreichische Militärhistoriker Markus Reisner im DW-Interview. Er sieht zwei Möglichkeiten.

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Ukrainischer Soldat im Schützengraben
Ukrainischer Soldat im SchützengrabenBild: DW

DW: Der ukrainische Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj schrieb im britischen Economist, Russlands Krieg sei in einer Sackgasse, es drohe ein Stellungskampf wie im Ersten Weltkrieg. Der Präsident Wolodymyr Selenskyj hat indirekt widersprochen: Es sei keine Sackgasse. Wer hat recht?

Markus Reisner: Man muss diese Aussagen einordnen in den Verlauf des Krieges. Saluschnyj sagt, dass man nach 20 Monaten feststellen kann, dass die Ukraine immer nur das bekommt, was es ihr möglich macht, eine asymmetrische Situation wieder auszugleichen. Aber zu wenig, um die Russen so in die Enge zu treiben, dass sie gezwungen sind, in Verhandlungen zu treten. Ein Beispiel sind ATACMS-Raketen oder die Diskussion über die F-16-Kampfjets. Saluschnyj sagt, seht her, die Situation ist prekär, und wenn ihr wollt, dass wir gewinnen, dann muss es hier einen Unterschied geben zu früher.

Der Präsident versucht, das einzuordnen. Selenskyj sagt, ja, es ist die Aussage meines Generals, aber wir sind trotzdem auf der Siegerstraße. Er macht das, was von ihm als Präsident erwartet wird. Wenn der Präsident sagt, es ist verloren, hätte das einen enormen moralischen Impact. So wie er auch am Beginn des Krieges gesagt hatte: Ich bleibe in der Stadt, schickt mir Waffen und kein Taxi.

Viele haben diese Aussagen von Salunschnyj und Selenskyj als Meinungsdifferenzen wahrgenommen, die vielleicht zum ersten Mal so sichtbar wurden. Wie gefährlich ist das für die Unterstützung der Ukraine?

Militärhistoriker Reisner
Militärhistoriker Reisner Bild: BMVL

Das ist ein Dilemma. Die Russen haben sofort den Ball aufgenommen und erklärt, dass die ukrainische Offensive gescheitert ist, sich auf General Saluschnyj berufend, der gesagt hat, es werde wohl "keinen tiefen und schönen Durchbruch geben". Das Dilemma ist: Die Ukraine hat nicht all die Fähigkeiten gehabt, die sie gebraucht hätte. Das habe ich immer gesagt und man hat damals gemeint, mit der Moral würde man das schaffen. Das ist gegen jede militärische Logik. Auch General Saluschnyj hat vor einigen Monaten ganz klar über englische Medien ausgerichtet, wir stehen hier an der Front, ihr braucht uns nicht zu erklären, wie wir diesen Krieg führen müssen. Wir sind dankbar über jede Waffenlieferung, die wir bekommen, aber die Situation ist die, dass wir ohne Luftunterstützung nicht so wie aus dem NATO-Handbuch vorgehen können. Deshalb haben wir unsere eigenen Taktiken entwickelt.

Ist es nicht so, dass der Stellungskrieg im Grunde seit rund einem Jahr da ist? Nach der Rückeroberung von Cherson gab es keine großen Veränderungen der Frontlinie. Warum dann jetzt diese Feststellung?

Es ist so, dass die Ukraine immer dann gut war, wenn sie mobil war. Die Russen haben es immer wieder geschafft, die Ukraine in eine stationäre Kampfführung zu zwingen. Das hat natürlich die russische Seite bevorteilt, weil sie hier ihre großen Fähigkeiten ausspielen kann wie zum Beispiel den Einsatz von massiver Artillerie, aber auch den Einsatz im elektromagnetischen Feld, das Jammen von Kommunikation und Kommunikation zu den Drohnen. Dieses Dilemma wollte man durchbrechen durch die Offensive, die mit dem 4. Juni begonnen hat, aber sie hat nicht ihre gesetzten Ziele erreicht. Damit haben die Russen die Ukrainer wieder in den Stellungskrieg hineingezwungen.

Darum ist es jetzt der Moment, wo man mit der Offensive des Sommers abschließen muss und die Ukraine darauf vorbereiten muss, dass sie im Frühjahr wieder in die Offensive gehen kann. Man sieht die Anzeichen dafür, die Gründung von fünf neuen Brigaden. Aber die Frage ist: Wo kommt das Gerät her? Dazu brauchen sie 150 Kampfpanzer, 300 Schützenpanzer, zumindest 200 bis 300 Artilleriesysteme, die müssen jetzt geliefert werden. Nicht dass sie der Offensive nachtrauern, sondern die Frage stellen, wie geht es jetzt weiter? 

Saluschnyj spricht in seinem Artikel ein technisches Wunder an. Er sagt das Wort "Wunder" nicht, aber meint es. Er vergleicht es mit der Erfindung von Schwarzpulver. Was könnte es sein?

Wir haben eine Situation, wo beide Seiten in einer Art Patt sind. Sie wird verstärkt durch technologische Entwicklungen. Während die Ukraine sehr innovativ in den letzten Monaten neue Waffensysteme eingeführt hat, in einer Qualität, über die man vorher nur theoretisch lesen konnte, in Texten über die Zukunft des Krieges. Wir haben ganze Schwärme von Drohnen, die fast gleichzeitig im Einsatz sind. Die russische Seite hat diese innovativen Ideen oft kopiert und begonnen, diese zu erzeugen. So haben wir das sogenannte gläserne Gefechtsfeld. Es ist nicht mehr möglich, Kräfte bereitzustellen, größere Mengen von Panzern auf einem engen Raum zusammenzuziehen und dann nicht ins Manöver zu gehen, weil der Gegner oder der Verteidiger sofort weiß: Sie kommen und das muss man mit Artillerie und Drohnen unwirksam machen.

Wie kann man das verhindern? Es gibt Hinweise dazu im Interview von Saluschnyj. Es geht um die Beherrschung des elektromagnetischen Feldes, wo gefunkt wird und Drohnen gesteuert werden. Wenn es gelingt, dieses zu beherrschen, dann gelingt es auch, den Gegner wieder blind zu machen. Interessant ist, dass Saluschnyj sein Treffen mit Eric Schmidt beschreibt, dem früheren CEO von Google. Da kommt künstliche Intelligenz ins Spiel. Viele Sensoren generieren Daten und die KI wertet sie aus und macht schnell einen Vorschlag - hier ist ein Ziel, diese Waffen können zugewiesen werden. Zeit ist ein Faktor der Kriegführung. Wenn es der Ukraine gelingt, innovativ das elektromagnetische Feld zurückzuerobern und mit Faktor Zeit zu arbeiten, dann kann sie in der Lage sein, das Momentum auf ihre Seite zu ziehen.

Ist der Westen auf einen Stellungkrieg in der Ukraine vorbereitet?

Der Westen ist darauf nicht vorbereitet, weil der Westen sich seit 20 Monaten die Situation schönredet, und weil er meint, die Ukraine ist in der Lage, mit der Moral diesen russischen Bären zu besiegen. Das funktioniert so nicht. Aus meiner Sicht gibt es zwei Möglichkeiten. Die eine ist, All-in zu gehen. Da müssten aber jede Woche vier bis fünf beladene Militärzüge in die Ukraine fahren. Das andere ist, selbstkritisch einzugestehen, dass es nicht möglich ist. Dann muss man das aber den Ukrainern sagen. Man muss dann möglicherweise mit Verhandlungen beginnen, aber mit dem Eingeständnis, dass die Ukraine als Staat so nicht mehr existieren wird, weil Russland sie zerstören wird.

Was ist Ihre Prognose für 2024? 

Wie nähern uns einem Kulminationspunkt, wo die Situation auf der Kippe steht und sich entscheidet - in die eine oder andere Richtung. Wir haben mehrere Krisen und die Aufmerksamkeit für die Ukraine ist zunehmend schwierig aufrechzuerhalten. Wenn es die Ukraine nicht schafft, weiter im Blickpunkt der Weltöffentlichkeit zu bleiben und vor allem für die europäische Seite klarmacht, dass der Krieg um Europa möglicherweise in der Ukraine entschieden wird, dann wird es für die Ukraine schwierig werden. Wenn es die Ukraine schafft, das Gegenteil zu bewirken, dann könnte sich der Konflikt in diese Richtung entwickeln. Ob es so möglich ist, wissen wir nicht. Wir erleben Geschichte im Werden. Darum ist der Artikel von Saluschnyj so wichtig.

Markus Reisner ist Militärhistoriker und Oberst des österreichischen Bundesheeres.