Der Regisseur Milo Rau über "Hate Radio"
8. April 2014DW: Herr Rau, wie ist Ihr Theaterstück "Hate Radio" entstanden? Ein deutsches Theater soll Sie ganz lapidar gefragt haben, ob Sie nicht mal was zu Afrika machen könnten. Wie ging es weiter?
Milo Rau: Es war ungefähr im Jahr 2006, da fragte mich ein Theater in Deutschland, ob ich etwas mache zu Afrika. Ich las damals die Reportage von Philip Gourevitch und Erzählungen von Überlebenden und Tätern von Jean Hatzfeld, den beiden bekanntesten Journalisten, die sich mit dem Genozid in Ruanda beschäftigt haben. Aber ich habe relativ schnell gemerkt, dass es schwierig ist, fiktional über den Genozid zu arbeiten. Die Fakten der Geschichten waren derart stark, dass ich das Thema zur Seite gelegt habe. Ende 2009 habe ich mich daran erinnert, dass ich bei meinen Recherchen auf das Studio von Radio-Télévision Libre des Mille Collines (RTLM) gestoßen bin. Ich hatte die Idee, diesen gewaltigen Konflikt auf eine realistische Weise zu erzählen, und zwar auf einer Fläche von 16 oder 20 Quadratmetern: in einem Radiostudio.
Wir haben sehr viel recherchiert und die noch lebenden Moderatoren gesucht. Zum Beispiel Valérie Bemiriki, die sitzt lebenslänglich im Gefängnis in Kigali ein. Kantano Habimana, der verschollen ist oder sich versteckt hält, man weiß es nicht. Und Georges Ruggiu, der weiße Moderator, der mit dem internationalen Gerichtshof kooperiert und sich schuldig bekannt hat, ist heute wieder in Freiheit. Das Besondere ist, dass alle Schauspieler ruandische Künstler sind, die den Genozid überlebt haben. Es sind Schauspieler, die sich selber der Ethnie Tutsi zuordnen, falls es sich bei den Hutu und Tutsi überhaupt um eine Ethnie handelt.
Für sie war es interessant oder eine bestimmte politische oder künstlerische Entscheidung, diese Sendung zu spielen, die teilweise zum Tod ihrer Familien geführt hat: Die Familie von Dorcy Rugamba etwa, der anfangs den Moderator Kantano Habimana spielte, wurde komplett ausgelöscht. Nancy Nkusi, die die Moderatorin Valérie Bemeriki verkörpert, konnte mit einem Teil ihrer Familie fliehen.
Sie haben viele Interviews mit Überlebenden und den Moderatoren von RTLM geführt. Wie viel ist von Ihrem Theaterstück "Hate Radio" belegt, kann also als "wahr" angesehen werden?
Man könnte sagen: alles. Man könnte aber auch sagen: nichts. Das Theaterstück ist eine extreme Verdichtung dessen, was RTLM war. Und es ist eine Erfindung. Man muss verstehen, dass RTLM in einen Medienmarkt hineinkam, in dem es als extrem jung, modern, cool, postmodern und angesagt empfunden wurde. Wenn man es heute hören würde, in einem komplett übersättigten medialen Kontext, würde man nie verstehen, warum dieses Radio einen solchen Einfluss auf die Jugend hatte. Wir mussten es also für die Aufführung jugendlicher machen, moderner, schneller - dabei aber trotzdem die Wortwahl beibehalten.
Sie haben das Stück "Hate Radio" auch in Ruanda auf die Bühne gebracht, und die Menschen sagten Ihnen: "Ja, genau so war RTLM". Hatten Sie keine Skrupel, dieses Radio wieder aufleben zu lassen, das zum Genozid vor 20 Jahren in Ruanda beigetragen hat?
Doch, ich hatte riesige Skrupel. Und die Schauspieler noch viel mehr als ich. Und sie hatten auch Angst. Man fragt sich zunächst, was es bringen soll, dieses Radio, das nur Unglück, ja, viel mehr als Unglück gestiftet hat, dahin zurückzubringen, wo es für so viel Leid verantwortlich ist. Die Schauspielerin Nancy Nkusi war seit dem Genozid nicht mehr in Ruanda gewesen, und als sie erstmals zurückkam, wurde sie zur RTLM-Moderatorin Valerie Bemeriki. Da fragt man sich schon, was das bringen soll.
Aber die Reaktion der Menschen in Ruanda hat uns gezeigt, wofür es gut ist: für die die Erinnerung an den Genozid. Wir haben das Stück sogar in den RTLM-Studios gespielt und waren wirklich auf Sendung im Zentrum von Kigali: Die Leute konnten das von der Straße aus sehen und uns über einen Radioempfänger hören; der war natürlich nicht weit eingestellt, nur etwa 100 Meter.
In Ruanda gibt es eine sehr bewusste Art, sich zu erinnern. Eine Art, die sicher auch teilweise zur politischen Ideologie des Landes gehört, aber auch zum Selbstverständnis des Landes. Radio RTLM aber wird nahezu ausgeklammert. So habe ich das jedenfalls empfunden. Durch die Theateraufführung gerieten das Radio RTLM und seine Rolle wieder ins Bewusstsein.
Wieso hatte gerade RTLM so einen großen Erfolg und andere Sender nicht?
Neben vielem anderen hatte die Musik einen starken Einfluss. Hinzu kam, dass RTLM soziologisch gesehen viele Schichten zusammenbrachte: Es gab einen pseudo-intellektuellen Moderator, der zu den Pseudo-Intellektuellen sprach. Eine Moderatorin, die zu den Frauen, zur ländlichen Bevölkerung und zu denen sprach, die gläubig sind. Und es gab jemanden, der Späße machte und zur männlichen Jugend sprach, die im Genozid entscheidend war. RTLM war ganz anders als das staatliche Radio Ruanda, das autoritär war, zu dem man nicht "gehören" konnte. Und ein Grund war einfach auch, dass es relativ billig war, ein Radiogerät zu haben: So konnte man Radiomusik hören und gleichzeitig Leute umbringen.
Genau das hat kürzlich eine Überlebende des Völkermordes erzählt: Sie habe noch das Bild vor Augen, wie Leute mit ihrem kleinen Radio in der linken Hand RTLM hörten, und in der rechten Hand hatten sie die Machete.
Ihr aktuelles Theaterprojekt heißt "Kongo-Tribunal" und ist eine Art Fortsetzung von "Hate Radio": Es geht um den Kongo, der bis heute unter den Folgen des Genozids in Ruanda leidet.
Das "Kongo-Tribunal" wird 2015 rauskommen. Im Ost-Kongo überschneiden sich extrem viele Linien geostrategischer und weltwirtschaftlicher Art. Denn dort gibt es Rohstoffe, die fast ausschließlich dort vorkommen. Nach dem Genozid in Ruanda flüchteten viele Hutu in Flüchtlingslager in den Ost-Kongo, darunter auch viele Völkermörder. Die ruandische Armee hat diese Lager aufgelöst, blieb aber im Ost-Kongo. Dann kam die ugandische Armee dazu, später diverse Milizen - die Situation ist unübersichtlich geworden.
Es sollen in den vergangenen 20 Jahren zwischen drei und zehn Millionen Menschen gestorben sein. Auch viele ausländische Armeen sind im Ost-Kongo präsent, und alle haben natürlich ihre Begründung dafür, warum sie da sind; oft schützen sie Wirtschaftsbetriebe. Man spricht manchmal vom Dritten Weltkrieg, wo sich entscheidet, wer die Oberherrschaft über die wichtigsten Rohstoffe bekommt. Mich hat interessiert, genau zu untersuchen, was im Kongo geschieht und was sich dort entscheidet: nämlich unser aller Zukunft. Der Belgier David van Reybrouck hat ein Buch über den Kongo geschrieben und gesagt: Der Kongo scheint ein Blick ins Mittelalter zu sein. Im Grunde aber ist es ein Blick in die Zukunft der Menschheit!
Milo Rau (37) ist Schweizer Theaterregisseur, Journalist und Essayist. Sein als Reenactment angelegtes Theaterstück "Hate Radio" wurde 2011 im Kunsthaus Bregenz uraufgeführt.
Das Interview führte Dirke Köpp.