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Politik

Miss Venezuela trotzt Corona und Krise

25. September 2020

Die venezolanische Schönheitskönigin 2020 heißt Mariángel Villasmil. Millionen Venezolaner hockten wie jedes Jahr vor den Bildschirmen und vergaßen für eine Nacht ihren tristen Alltag zwischen Armut und Pandemie.

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Venezuela Caracas | Miss Venezuela Schönheitswettbewerb 2019
Den gemeinsamen Auftritt gab's dieses Jahr nicht - eine Aufnahme der Wahl zur Miss Venezuela 2019Bild: Federico Parra/AFP/Getty Images

Das ist der bewegende Höhepunkt des Abends: Der Moderator im feinen Zwirn mit Smoking und Fliege verkündet endlich stolz den Namen der neuen venezolanischen Schönheitskönigin - da kann Mariángel Villasmil ihre Freudentränen nicht mehr zurückhalten. In dem Land, in dem für die meisten gar nichts mehr möglich ist, hat die 24-jährige Psychologiestudentin nun alle Möglichkeiten.

Die bisherige Miss Zulia, die Schönste im Bundesstaat an der Grenze zu Kolumbien, setzte sich gegen ihre 21 Konkurrentinnen durch und wird Venezuela bei der Wahl zur Miss Universe vertreten. Am Ende faltet Villasmil ihre Hände und schluchzt ihrem Publikum wieder und immer wieder ein "Gracias" entgegen.

Nur: Es sind gar keine Zuschauer vor Ort. Die Tränen nach dem Sieg sind auch nicht spontan, denn sie wurden von allen Teilnehmerinnen vorher aufgezeichnet, genauso wie der Gang auf dem Catwalk in Badeanzug oder Galakleid sowie die Interviews.

Miss Venezuela aus der Corona-Konserve

Wer gewonnen hatte, war bis zum Donnerstag das am besten gehütete Geheimnis Venezuelas, nur drei Personen wussten davon. Mariángel Villasmil wird nicht nur in die Geschichte eingehen als die Gewinnerin der 67. Wahl von Miss Venezuela, sondern auch als die erste Siegerin unter Corona-Bedingungen - die von ihrem Titel auf dem heimischen Sofa erfuhr.

Venezuela | Miss Venezuela 2020: Mariangel Villasmil mit Mundschutz
Laufsteg-Unterricht über Whatsapp, Zoom und Instagram, Frisieren mit Maske - Mariángel VillasmilBild: Federico/ParraAFP/Getty Images

Doch was wäre die Alternative für die Veranstalter gewesen? Die "Noche mas linda" absagen, die schönste Nacht, wie sie in Venezuela genannt wird, die in den goldenen Zeiten ein Stadion mit 20.000 Zuschauern füllte (das heute übrigens als COVID-19-Bettenlager dient)? Das Event also absetzen, das den Venezolanern in etwa so viel bedeutet wie den US-Amerikanern der Super Bowl im Football oder den Brasilianern und Argentiniern das Finale der Fußball-Weltmeisterschaft?

"Miss Venezuela - das ist in unserer DNA!"

Oder die Magie der Veranstaltung mit einer virtuellen Dramaturgie aufs Spiel setzen? Undenkbar, sagt María Gabriela Isler: "Miss Venezuela ist Teil unserer Kultur, unserer Gefühle, das Event ist in unserer DNA. Es ist viel mehr als ein Schönheitswettbewerb, weil es zeigt, dass die venezolanische Frau auf der Welt alles erreichen kann!"

Isler spricht ein wenig von sich selbst, sie hat seit ihrer Wahl zur Miss Venezuela 2012 eine Karriere wie aus dem Bilderbuch hingelegt. Ein Jahr später wird die Enkelin eines Schweizer Auswanderers Miss Universe, darf als Belohnung ein Jahr in New York leben, gründet eine Stiftung für die Prävention von Teenager-Schwangerschaften und ist heute erfolgreiche Geschäftsfrau und Kommunikationschefin von Miss Venezuela.

Gabriela Isler und der teure Traum vom Supermodel

Was Heidi Klum in Deutschland oder Tyra Banks in den USA, ist Gabriela Isler in Venezuela - und noch viel mehr als das. Denn im gleichen Zeitraum, in dem der rasante Aufstieg der Schönheitskönigin beginnt, stürzt das erdölreichste Land der Welt wirtschaftlich und politisch ins Bodenlose ab. Heute verkörpert Isler deshalb wie keine Zweite die Hoffnung, es irgendwie nach oben zu schaffen in einem Land, in dem wegen Armut, Kriminalität und Gewalt absolute Hoffnungslosigkeit herrscht.

María Gabriela Isler I Miss Venezuela 2012 I Miss Universe 2013
"Als Miss Venezuela bist Du eine Art Botschafterin der venezolanischen Schönheit" - Gabriela IslerBild: Diego Kapeky

Für diesen Traum ist den Venezolanern jeder Bolívar recht: Kleine Mädchen lernen im Privatunterricht, der monatlich mehrere Mindestlöhne auffrisst, wie sie auf dem Laufsteg flanieren müssen, Teenager bekommen zu ihrem 15. Geburtstag aberwitzig teure Brustvergrößerungen geschenkt, Venezuela zählt weiterhin trotz Rekordinflation zu den Ländern mit den meisten Schönheitsoperationen weltweit.

Für einen Abend heißt es nicht: Maduro oder Guaidó

"Die Show ändert nichts an der Realität in Venezuela, aber sie hilft uns für einen Moment, alle Sorgen des Alltags zu vergessen und zusammenzurücken, auch wenn wir verschiedene politische Ansichten teilen", sagt Gabriela Isler, die vor kurzem im Fernsehen in Tränen ausbrach, als sie über den Zustand ihres Landes befragt wurde.

Irene Saez I Bürgermeisterin von Chacao, Venzuela I Präsidentschaftskandidatin
Miss Venezuela 1981, Politikerin, Präsidentschaftskandidatin 1998 - Irene SáezBild: Bertrand Parres/AFP/Getty Images

Für einen Abend konnten die Anhänger von Präsident Nicolás Maduro und diejenigen von Oppositionsführer Juan Guaidó ihre politischen Differenzen ausblenden und verdrängten die Gedanken an die leeren Supermarktregale, die sie am nächsten Morgen wieder erwarteten.

Manche Miss Venezuela kann auch politisch

Nicht alle Siegerinnen der Miss-Venezuela-Wahl wollen sich mit dieser neuen, tristen Realität abfinden. Isabella Rodríguez, Miss Venezuela 2018, ging sogar auf die Straße, um gegen die Regierung zu demonstrieren. Rodríguez ist der lebende Beweis dafür, dass auch Frauen aus ärmeren Schichten den Titel holen können, sie stammt aus Petare aus der Peripherie der Hauptstadt Caracas, einem der größten Armenviertel Lateinamerikas.

Miss Venezuela 2018 I  Isabella Rodríguez
"Stellt euch vor: Von Petare in die Welt. Träume können wahr werden!" - Isabella RodríguezBild: Boris Vergara/dpa/picture-alliance

Auf Instagram schrieb sie, dass sie die Stimme jener Menschen sei, die nichts zu essen und keinen Zugang zur Gesundheitsversorgung hätten. Und sie forderte gleiche Chancen für alle. Rodríguez gehört zu den neuen Schönheitsköniginnen, die sich nicht scheuen, sich politisch zu positionieren und die Probleme Venezuelas beim Namen zu nennen.

Das Land mit den schönsten Frauen der Welt

Diego Kapeky kennt sie alle, Rodríguez, Isler und selbst die Miss Venezuela von 1981, Irene Sáez, die später in die Politik ging und bei den Präsidentschaftswahlen 1998 gegen Hugo Chávez verlor (der das Land bis zu seinem Tod 2013 regierte). Kapeky war früher Schauspieler und Sänger und ist heute eines der Gesichter von Venevisión, einem der ältesten TV-Kanäle des Landes, der den Schönheitswettbewerb seit Ewigkeiten überträgt. "Durch Miss Venezuela sind wir zu Gläubigen des Guiness-Buches der Rekorde geworden", sagt er.

Sieben Miss Universe, sechs Miss World, acht Miss International und zwei Miss Earth - die venezolanischen Schönheitsköniginnen haben mehr Titel abgeräumt als die Frauen jedes anderen Landes der Welt.

Diego Kapeky I venezolanischer Journalist
"Früher hatten wir sechs bis acht Kameras für eine Einstellung, diesmal nur eine" - Diego KapekyBild: Diego Kapeky

Vielleicht sind Kapeky und seine Landsleute jetzt noch stolzer darauf, weil Venezuela mittlerweile weltweit bei Rankings der Versagens ganz vorne mitmischt: beim Währungsverfall, bei sinkenden Erdöleinnahmen und bei Bewohnern, die ihr Land fluchtartig verlassen.

Kapeky ist jedenfalls heilfroh, dass die Sendung trotz Virus unfallfrei über die Bühne ging und sich der ganze Aufwand mit der Einhaltung der Hygieneregeln gelohnt hat. Dennoch: Die Corona-Ausgabe von Miss Venezuela müsse eine Ausnahme bleiben: "Früher hatte Miss Venezuela die meisten Werbeeinspieler landesweit, da müssen wir wieder hin. Natürlich spielen wir mit der Show immer noch weltweit in der höchsten Liga der Unterhaltungssendungen mit, aber die Sendung hat mit Corona ein wenig das Majestätische verloren."