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Oranje-Turnsport: Zu Medaillen geprügelt?

29. Juli 2020

Vincent Wevers, einer der populärsten Trainer der Niederlande, steht am Pranger: Eine Ex-Turnerin wirft ihm vor, er habe sie als Kind im Training misshandelt. Der Turnverband KNGU legt sein Spitzensportprogramm auf Eis.

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WM-Gymnastik 2010 | Ahoy RotterdamJoy | Trainer Vincent Wevers umarmt Joy Goedkoop
Joy Goedkoop (2.v.l.) mit Trainer Vincent Wevers (im Jahr 2010)Bild: picture-alliance/ANP/I. V. Den Hosen

"Ich wurde von ihm geschlagen und getreten", sagte die frühere Turnerin Joy Goedkoop im niederländischen Fernsehen. "Nicht jeden Tag, aber Herabwürdigung, Wutausbrüche und Ignoranz waren an der Tagesordnung. Emotionen, Gefühle und Schmerzen waren nicht erlaubt, es gab keinen Platz für Müdigkeit. Man sollte wie eine Maschine funktionieren."

Goedkoop berichtete über die sechs Jahre, in denen sie als Kind im Turnzentrum der Kleinstadt Oldenzaal im Osten der Niederlande trainierte, unweit der Grenze nach Deutschland. Ihr Trainer war nicht irgendwer, sondern kein Geringerer als Vincent Wevers.

Turnerinnen distanzieren sich

2016 wurde der Nationalcoach in den Niederlanden zum "Trainer des Jahres" gekürt, nachdem seine Tochter Sanne bei den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro sensationell Gold am Stufenbarren gewonnen und dabei sogar US-Superstar Simone Biles besiegt hatte. Es war die erste olympische Einzelmedaille für den niederländischen Turnsport.

Kanada Montreal | Turn Trainer und Tochter |  Vincent Wevers und Sanne
Nationalcoach Vincent Wevers mit seiner Tochter und Athletin SanneBild: picture-alliance/dpa/R. van Lonkhuijsen

Wevers wies die Anschuldigungen zurück. "Ich habe niemals eine Turnerin getreten oder geschlagen",  sagte er, räumte jedoch ein, dass er ein harter Trainer gewesen sei: "Als ich anfing, habe ich mich der Kultur angeschlossen, die damals herrschte. Die war sehr hart und spartanisch mit wenig Mitsprache. Das würde ich heute nicht mehr so machen." Wevers' Tochter Sanne, ihre Zwillingsschwester Lieke und andere Mitglieder des aktuellen niederländischen Frauen-Turnteams distanzierten sich über die sozialen Netzwerke von den Anschuldigungen: "Wir erkennen uns nicht in dem Bild wieder, das jetzt vom niederländischen Turnen in Bezug auf die Geschichten der Vergangenheit gezeichnet wird. Sollte es früher Platz für körperliche und seelische Misshandlungen gegeben haben, gehört dies für uns der Vergangenheit an. Unsere derzeitige Mannschaft hat ein gesundes Spitzensport-Klima."

Spitzensportprogramm gestoppt

Der niederländische Turnverband KNGU legte wegen der Missbrauchsvorwürfe sein komplettes Spitzensportprogramm auf Eis. Die Trainer würden suspendiert, bis die Untersuchung der Vorwürfe abgeschlossen sei, erklärte der Vorstand der KNGU. "Turnerinnen und Turner treten vor und halten dem gesamten Turnsport einen Spiegel vor. Niemand kann die Augen davor verschließen, was wir darin sehen. Das gilt für die Trainer, aber auch für uns als Verband", sagte KNGU-Präsidentin Marieke van der Plas.

Der Verband hat eine unabhängige Untersuchung der Missbrauchsvorwürfe angekündigt. Das Zentrum für sicheren Sport in den Niederlanden, eine Organisation des Nationalen Olympischen Komitees, hat misshandelte Turnerinnen und Turner aufgerufen, sich zu melden und über ihre Erlebnisse zu berichten. Die Angaben würden vertraulich behandelt haben, man könne sich auch anonym melden.

Bisher ist Goedkoop die einzige Ex-Turnerin, die Vincent Wevers öffentlich körperliche Misshandlungen vorgeworfen hat. Doch auch andere wagen sich inzwischen aus der Deckung: "Körperlich wurde ich nie verletzt, aber ich hatte Angst vor Vincent", sagte Wyomi Masela im niederländischen TV. Sie hatte 13 Jahre lang unter Wevers geturnt. "Ich bin nicht als dicke Kuh beschimpft worden, wie es andere Turnerinnen von verschiedenen Trainern erzählt haben. Aber ich hatte immer das Gefühl, übergewichtig zu sein. Das beschäftigt mich noch heute."

Wevers habe sie zeitweise viermal am Tag auf die Waage geschickt. Laut einer wissenschaftlichen Studie leiden fast 50 Prozent der niederländischen Top-Turnerinnen und -Turner an Essstörungen.

Ex-Nationalcoach Beltman: "Ich war besessen"

Dem niederländischen Turnsport stehen unruhige Zeiten bevor. Den Skandal ins Rollen gebracht hat der Netflix-Film "Athlete A", der seit Ende Juni in den Niederlanden verfügbar ist. Der Film dokumentiert den Missbrauchsskandal im US-Turnsport um den Sportarzt Larry Nassar, der über Jahrzehnte Sportlerinnen sexuell missbraucht hatte. Vorwürfe gegen niederländische Turntrainer, etwa den Nationalcoach Gerrit Beltman, gab es schon vor Jahren, doch erst der Netflix-Film hat in den Niederlanden eine breite öffentliche Debatte darüber ausgelöst.

Am vergangenen Freitag räumte Beltman in einem Interview der Zeitung "Noordhollands Dagblad" ein, über Jahre Turnerinnen und Turner "misshandelt und gedemütigt" zu haben. "Heute schäme ich zutiefst dafür", sagte der 64-Jährige, der bis Dezember 2010 für den Verband KNGU arbeitete und dann nach Kanada wechselte: "Ich hatte nie die Absicht zu schlagen, zu fluchen, zu verletzen oder herabzusetzen. Aber es ist geschehen. Ich schlug zu und dachte, das sei der einzige Weg, um einen Spitzensport-Mentalität zu entwickeln."

Er sei "besessen gewesen", so Beltman. "Ich war und bin nicht der Einzige - das Gegenteil ist wahr. Die Chance, dass eine Turnerin - und ich spreche über den Top-Bereich - den Sport traumatisiert verlässt, ist größer als die, unbeschadet davonzukommen."

Tiefes schwarzes Loch

Auch Joy Goedkoop ist nach eigenen Worten noch nicht über das Erlebte hinweg. "Eigentlich bin ich immer noch nicht ganz auf der Höhe", sagt die frühere Turnerin. "Ich habe drei Jahre wirklich tief in einem schwarzen Loch verbracht."

Goedkoop forderte andere misshandelte Sportlerinnen und Sportler auf, ihrem Beispiel zu folgen und ihre Geschichten zu erzählen: "Damit wir den untersten Stein heben und klar Schiff machen können."

DW Kommentarbild Stefan Nestler
Stefan Nestler Redakteur und Reporter