Missbrauchsskandal in Ungarn: Verliert Orban die Kontrolle?
19. Februar 2024Ungarns Premier Viktor Orban hält jedes Jahr zu einigen festen Terminen programmatische Reden, die von seinen Anhängern mit großer Spannung erwartet werden. Eine dieser Reden ist jeweils im Februar die Bilanz des vorangegangenen Jahres und der Auftakt zur neuen politischen Saison. Meistens spricht Orban bei dieser Gelegenheit in triumphalistischer Manier über zurückliegende Erfolge und verkündet kämpferisch neue Offensiven.
Ganz anders in diesem Jahr. Überschattet war die seit Tagen erwartete Rede Orbans von der so genannten Missbrauchsaffäre: Staatspräsidentin Katalin Novak war am 10.02.2024 wegen der Begnadigung eines Mannes zurückgetreten, der geholfen hatte, Kindesmissbrauch zu vertuschen.
Wegen des Rücktritts begann Orban seine Bilanz am vergangenen Samstag (17.02.2024) mit dem Satz: "Das Jahr 2024 hätte schlechter nicht anfangen können." Ähnlich fiel dann auch die Rede des Premiers aus - sie wirkte müde, uninspiriert und unstrukturiert. Es war eine der schwächsten Reden, die Viktor Orban seit seinem Amtsantritt 2010 gehalten hatte. Nicht nur Ausdruck dafür, dass die Missbrauchsaffäre Ungarns Premier in den vergangenen Wochen deutlich angeschlagen hat, sondern auch ein Zeichen für die allgemeine Stagnation in Orbans System.
Im Schatten des Missbrauchsskandals
Im Zuge des Missbrauchsskandals und der großen öffentlichen Empörung darüber war nicht nur Katalin Novak, eine langjährige Orban-Loyalistin, zurückgetreten. Zeitgleich mit ihr hatte sich auch die ehemalige Justizministerin Judit Varga, zuletzt Spitzenkandidatin von Orbans Partei Fidesz im Europawahlkampf, aus dem politischen Leben zurückgezogen.
Der Hintergrund: Der im vergangenen Jahr begnadigte Mann mit Namen Endre K. war verurteilt worden, weil er seinem Vorgesetzten, dem Leiter eines Waisenheimes, geholfen hatte, den systematischen schweren sexuellen Missbrauch von Kindern in mindestens einem Fall zu vertuschen. An die Öffentlichkeit gekommen war die Begnadigung durch die Staatspräsidentin zu Jahresanfang zufällig wegen eines Berufungsverfahrens, dass der Begnadigte zwischenzeitlich geführt hatte; die Begnadigungsurkunde lag den öffentlich zugänglichen Unterlagen seines Falles bei.
Die öffentliche Empörung über den Fall hatte in Ungarn ein selten großes Ausmaß erreicht. Denn Orban hat den Schutz von Kindern in den vergangenen Jahren zu einem zentralen Pfeiler seiner Anti-LGBTQ-Propaganda gemacht. Die Gleichung des Premiers dabei lautet: Homosexualität ist gleichbedeutend mit "Pädophilie", dem in Ungarn geläufigen Begriff für Kindesmissbrauch.
Rücktritt von Bischof Balog
Zwischenzeitlich war zudem herausgekommen, dass einer der engsten Vertrauten Orbans, der calvinistische Geistliche und ehemalige Minister für Humanressourcen, Zoltan Balog, sich bei der Staatspräsidentin für die Begnadigung von Endre K. eingesetzt hatte. Balog, seit 2021 Bischof, hatte deswegen zunächst von seinem Amt als Präsident der Synode der ungarischen reformierten Kirche nicht zurücktreten wollen. Im Vorfeld einer außergewöhnlich großen Protestdemonstration in Budapest am vergangenen Freitag (16.02.2024) hatte Balog sein Amt schließlich doch niedergelegt. Die Kundgebung war eine der größten Demonstrationen gegen das Orban-System seit 2010 - mindestens 50.000 Menschen, nach anderen Schätzungen bis zu 150.000, hatten sich in Budapest versammelt.
Zusammengeführt hatte die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nicht nur die Empörung über den Missbrauchsskandal und über die Doppelmoral in Orbans System. Es ging bei der Kundgebung um viel mehr: um Orbans Vorgehen, loyale Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu opfern, wo er selbst Verantwortung übernehmen müsste, um seinen selbstherrlichen und autokratischen Regierungsstil und vor allem um die weitverbreitete Korruption und den Machtmissbrauch in seinem System.
Massendemonstration in Budapest
Die außergewöhnlich hohe Teilnehmerzahl in einem Land, in dem eine Mehrheit inzwischen politisch eher gleichgültig eingestellt ist, erklärt der Politologe Daniel Mikecz mit dem - wie er es nennt - "Influencer-Aktivismus". Es seien die "Stars der ungarischen Influencer in sozialen Medien" gewesen, so Mikecz im Budapester Portal Qubit, die ihre Online-Welt verlassen, eine Offline-Demonstration organisiert und für eine hohe Mobilisierung gesorgt hätten.
Weder auf diesen Protest noch auf Einzelheiten der Missbrauchsaffäre ging Orban in seiner Bilanzrede ein. Er machte für die Situation allein die ehemalige Staatspräsidentin verantwortlich - mit einem knappen Erklärungskonstrukt: Ihr Amt verkörpere die Einheit der Nation, Novak habe diese Einheit jedoch durch die Empörung infolge der von ihr ausgesprochenen Begnadigung nicht mehr aufrecht erhalten können. Deshalb sei ihr Rücktritt unausweichlich gewesen.
Im weiteren Verlauf seiner Rede sprach Orban plötzlich ausführlich über die Chancen, die sich Ungarn böten, wenn es massiv in die Entwicklung erneuerbarer Energien investiere. Später folgten die üblichen Seitenhiebe gegen die Europäische Union, gegen die "Brüsseler Bürokraten" und gegen "LGBTQ-Aktivisten", die angeblich Ungarns traditionelles Familienmodell zerstören wollten. Auch sein übliches Narrativ zum russischen Krieg gegen die Ukraine wiederholte Orban: Die Europäische Union habe sich "kopfüber" in den "slawischen Bruderkonflikt" gestürzt, Ungarn sei der einzige Vertreter des Friedens in Europa.
Orban in der Defensive
Ungarns Premier, das wird aus seiner Rede deutlich, ist derzeit in der Defensive und scheint rat- und ideenlos. Langfristig dürfte ihm die Missbrauchsaffäre dennoch wenig anhaben. Die gegenwärtige Protestwelle ist eine der moralischen Empörung, die Organisatoren und Teilnehmer von Demonstrationen haben kein politisches Programm und vorläufig nicht die Absicht, sich zu einer Bewegung oder einer Partei zu organisieren.
Auch die existierenden Oppositionsparteien haben ihrerseits wenig mehr als Empörung über die Doppelmoral des Orban-Systems zu bieten. Die Partei Demokratische Koalition um den sozialistischen Ex-Premier Ferenc Gyurcsan hat gar den Begriff "Pädophilenstreichler" für Orban und seine Parteifreunde eingeführt - man will den Premier offenbar mit seinen eigenen Propagandawaffen schlagen, anstatt eine humanistisch basierte Kritik an Orbans Gleichsetzung von LGBTQ-Menschen und Kindesmissbrauch zu üben.
Für die ungarische Juristin und bekannte Kinderrechtsexpertin Szilvia Gyurko sind die Leidtragenden der langjährigen Propaganda und der jetzigen Debatte in erster Linie die Kinder selbst. "Es wäre wichtig, dass der Begriff des Kindesmissbrauchs und der Pädophilie nicht mehr dazu dienen würde, sich in der politischen Arena gegenseitig zu stigmatisieren", sagt Gyurko der DW. "Es wäre gut, wenn es einen politischen Willen gäbe, der es ernst damit meint, dass die Kinder unsere Zukunft sind."