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Mittelmeer: Gefährliche Flucht und schwierige Seenotrettung

Clare Roth
31. März 2024

Das vergangene Jahr war für Migranten, die über das Mittelmeer fliehen, das tödlichste seit 2017. Warum die Überfahrt so gefährlich ist, erfuhr DW-Korrespondentin Clare Roth an Bord eines Seenotrettungsschiffes.

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Geflüchtete sitzen an Deck eines Schiffes
Gerettet: 71 Menschen hat die Crew der "Life Support" vor dem Ertrinken bewahrtBild: Clare Roth/DW

An einem strahlenden Sonnentag im März sticht das Seenotrettungsschiff "Life Support" im Mittelmeer in See - zu einer 30-stündigen Reise vom sizilianischen Hafen Catania in Maltas Such- und Rettungszone. Das Boot gehört der italienischen Hilfsorganisation Emergency.

Während der Fahrt üben die Crewmitglieder Abläufe eines Rettungseinsatzes - zum Beispiel, was zu tun ist, wenn ein Boot mit Migranten kentert und die Menschen ertrinken oder wie sie Personen retten, die ihre Beine nicht bewegen können. Danach diskutieren sie, wie sie sich verhalten, wenn die libysche Küstenwache sich ihnen nähert. Die Empfehlungen variieren - je nachdem, ob Mitglieder der Küstenwache Schusswaffen ziehen oder ob ihr Boot lediglich in der Nähe "herumlungert", um die Crew des Rettungsschiffs einzuschüchtern.

Libyens Küstenwache: Grenzschutz, Gewalt - und Geld aus der EU

Nur wenige Stunden später wird dieses Szenario Wirklichkeit, an einer anderen Stelle des Mittelmeers: Männer der libyschen Küstenwache versuchen mit Gewalt, das Seenotrettungsschiff "Geo Barents" der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) zu entern. Es war kurz vor der "Life Support" von Italien aus ausgelaufen. Zwei Stunden lang hätte die Küstenwache "Überlebenden und MSF-Beschäftigten aggressiv damit gedroht, sie zu verhaften und mit Gewalt nach Libyen zu bringen", so Ärzte ohne Grenzen

Die libysche Küstenwache hat sich der "Life Support" in dem einen Jahr, seit sie im Einsatz ist, etwa fünf Mal genähert, erzählt Nicola Selva Bonino der DW. Er fährt als Seenotretter auf dem Schiff. Die libysche Behörde wird in Teilen von der Europäischen Union finanziert und ausgerüstet. Seit 2017 hat die EU mehr als 57 Millionen Euro bereitgestellt, um Libyen zu helfen, seine Grenzen zu kontrollieren.

Hohe Anzahl von Opfern auf den Migrationsrouten nach Europa

In den acht Jahren seit der sogenannten "Flüchtlingskrise" von 2015 haben die EU-Staaten fast alle Einsätze in den Such- und Rettungszonen zwischen der Südküste Europas und der Küste Nordafrika gestoppt. Schiffe wie die "Life Support" übernehmen nun diese Aufgabe.

Kritiker der Seenotrettung monieren, die Hilfsorganisationen böten einen Anreiz für irreguläre Migrantinnen und Migranten, in die EU zu kommen. Flüchtende, die versuchten, das Mittelmeer zu überqueren, verließen sich darauf, von europäischen NGOs gerettet zu werden. Das gelte besonders, wenn sie in klar seeuntüchtige Boote stiegen, die die Überfahrt nicht überstehen könnten. Bisher hat keine wissenschaftliche Studie nachgewiesen, dass diese Behauptung stimmt - sie bleibt in den EU-Mitgliedsstaaten jedoch ein zentraler Einwand gegen Seenotrettungsmissionen.

In den frühen Morgenstunden des 16. März erreicht die "Life Support" Maltas Such- und Rettungszone und erfährt kurz darauf, dass etwa 35 Seemeilen entfernt ein Flüchtlingsboot in Seenot ist. Die Crew findet die Geflüchteten sieben Stunden später: 71 Menschen in einem überladenen Glasfaserboot mit einem kaputten Motor. Die meisten sind junge Männer aus Bangladesch, einige kommen aus Eritrea, dazu ein Ägypter und eine junge Frau.

Geflüchtete sitzen in warmen Jacken auf dem Deck eines Seenotrettungsschiffes
Gesundheitscheck: Teammitglieder der "Life Support" kümmern sich um schiffbrüchigen Geflüchteten, die sie an Bord genommen habenBild: Clare Roth/DW

Viele von ihnen haben vor der Reise mehrere Monate in libyschen Gefängnissen verbracht, berichten sie der DW. Die Gefängniswärter hätten sie ausgepeitscht - sie zeigen Blutergüsse und Prellungen auf dem Rücken. "Das Gefängnis war so hart", erzählt Mehretab aus Eritrea. "Man bekommt nur einmal am Tag etwas zu essen. Und denen ist es egal, ob du lebst oder tot bist." Einige der Bengalis berichten, sie seien als Arbeiter nach Libyen gekommen - aber sie hätten keinen Lohn erhalten und ihre Pässe seien gestohlen worden.

Nachdem sie von der libyschen Stadt Tadschura östlich von Tripolis aufgebrochen waren, befanden sie sich 20 Stunden ohne Nahrung und Trinkwasser auf See. Sie seien sicher gewesen, dass sie alle sterben müssten, berichten sie.

Italien: Rettungsleitstelle sagt Rettungseinsatz ab

Kurz nachdem die Crew der "Life Support" die Migranten aufgenommen hat, meldet sich das Maritime Rescue Coordination Center (MRCC) aus Rom. Diese Rettungsleitstellen, die es weltweit gibt, regeln die Rettung Schiffbrüchiger in den Gewässern der jeweiligen Länder. Das MRCC in Rom weist die "Life Support" nun an, ein zweites Boot in Seenot zu finden.

Vielleicht ist das das Boot, das eine Viertelstunde vor ihrem aus Tadschura losgefahren ist, glauben die Überlebenden an Bord der "Life Support". Darin säßen ihre Freunde mit Frauen und Kindern, die meisten aus afrikanischen Ländern. Mehretab sagt, dabei seien auch Eritreer, mit denen er in den vergangenen zwei Monate in Libyen zusammengelebt habe.

Das Boot soll sich nur fünf Seemeilen beziehungsweise 30 Minuten entfernt befinden. Doch nach stundenlangem Suchen bricht das MRCC die Mission gegen vier Uhr morgens ab. Die "Life Support" wird angewiesen, den Hafen Ravenna an Norditaliens Adriaküste anzulaufen - eine Fahrt von vier Tagen.

Männer stehen und sitzen auf dem Boden im Innern eines Schiffes
Warm und trocken: Die Überlebenden bekommen Decken, frische Kleidung und heißes EssenBild: Clare Roth/DW

Die Crew der "Life Support" fragt, ob sie bis Tagesanbruch weitersuchen darf, um sicherzustellen, dass sie nichts übersehen. Die Nacht ist klar, aber ohne Mondschein sehr dunkel. "Man kann dann wirklich sehr leicht an einem Boot vorbeifahren, ohne es zu bemerken", sagt Anabel Montes Mier, Such-und-Rettungsdienst-Leiterin bei Emergency. Das MRCC schlägt die Bitte ohne Erklärung ab. Eine Nachfrage der DW zu den Gründen der Entscheidung bleibt unbeantwortet.

Seenotrettungsschiffe im Hafen festgesetzt

Die "Life Support" muss sich an die Anweisung des MRCC halten. Täte sie es nicht, würde sie wahrscheinlich bei ihrer Ankunft in einem italienischen Hafen festgesetzt. Während der Mission der "Life Support" wurden mehrere andere zivile Seenotrettungsschiffe in Verwaltungshaft genommen: die "Sea-Watch 5", die "Sea-Eye 4" und die "Humanity 1". Ebenfalls festgesetzt wurde am 20. März die "Geo Barents". Nach Angaben von Ärzte ohne Grenzen darf sie 20 Tage lang nicht auslaufen, weil sie angeblich den Anweisungen der libyschen Küstenwache nicht Folge geleistet habe.

Vier Tage nach ihrer Rettung wissen die Geflüchteten immer noch nicht, was mit dem zweiten Boot passiert ist - das Team der "Life Support" bekommt keine Informationen. Es ist möglich, aber unwahrscheinlich, dass die Passagiere es bis nach Lampedusa geschafft haben. Die Insel ist das EU-Territorium, das Libyen am nächsten liegt und darum das Ziel der meisten Migranten, die das Mittelmeer zu überqueren versuchen. Möglich ist auch, dass die libysche Küstenwache es abgefangen hat - oder dass es gesunken ist.

Dekret aus Rom: "Mehr Menschen werden ertrinken"

Rettungseinsätze im Mittelmeer waren nicht immer so schwierig. Es gab Zeiten, als die Schiffe von Sizilien ab- und dort auch wieder anlegten. Das ist etwa eine Tagesreise von der Such- und Rettungszone. Und sie kehrten erst zurück, wenn sie so viele Passagiere von Booten in Seenot aufgenommen hatten wie möglich.

Doch Anfang 2023 hat Italiens Regierung ein Dekret erlassen, nach denen die Schiffe nach einer einzigen Rettungsaktion umgehend in den ihnen zugewiesenen Hafen einlaufen müssen - und der ist oft Tage entfernt. So hätte dieser Einsatz der "Life Support" am Freitagnachmittag begonnen und am Montagmorgen beendet werden können, wenn das Schiff einem sizilianischen Hafen zugewiesen worden wäre. Stattdessen brauchte es fast eine ganze Woche.

Menschen gehen die Gangway eines Schiffes hinunter zu Wagen einer medizinischen Ambulanz
Ankunft: Nachdem die Migranten in Ravenna von Bord gehen, bringt das italienische Rote Kreuz sie in AuffanglagerBild: Clare Roth/DW

Drei Tage nach Inkrafttreten des Dekrets veröffentlichten 18 Seenotrettungsorganisationen, die im Mittelmeer operieren, ein gemeinsames Statement. Darin warnen sie davor, "dass mehr Menschen im Mittelmeer ertrinken". Das Dekret werde "die Rettungskapazitäten auf See reduzieren und damit das zentrale Mittelmeer, eine der tödlichsten Fluchtrouten der Welt, noch gefährlicher machen", schreiben sie. "Das Dekret zielt vordergründig auf Seenotrettungsorganisationen ab, doch den wahren Preis werden die Menschen zahlen, die über das zentrale Mittelmeer fliehen müssen und in Seenot geraten."

Bittersüßes Ende für die Geflüchteten

Das vergangene Jahr war das bisher tödlichste für Migranten auf dem Seeweg nach Europa seit 2017. In den nicht mal 24 Stunden, in denen die "Life Support" in der Such- und Rettungszone war, hat sie sechs Notrufe von Booten in Seenot bekommen, berichtet Anabel Montes Mier der DW. Aufgrund der neuen Beschränkungen konnte sie jedoch nur ein Boot und seine Passagiere retten.

Nachdem die "Life Support" die Zone verlassen hatte, hat an zwei klaren und sonnigen Tagen tatsächlich kein einziges Schiff im Gebiet zwischen Libyen und Italien patrouilliert.

Auf ihrer Reise nach Ravenna hat die "Life Support" 71 Migrantinnen und Migranten in Sicherheit gebracht - weniger als die Hälfte ihrer Kapazität. Diese Menschen haben überlebt. Aber keiner von ihnen hat etwas von den Freunden auf dem zweiten Boot gehört.

Dieser Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert.