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Politik

Mohammed VI. - der verhaltene Reformer

30. Juli 2019

Seit 20 Jahren regiert König Mohammed Marokko und bescherte dem Land größere politische Freiheiten. Gesellschaftlich stieß er einen Modernisierungsprozess an. Kritiker sagen: Dem König blieb gar keine andere Wahl.

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Marokko König Mohammed VI in Rabat
Bild: Getty Images/C. Jackson

Als der König starb, unterbrachen die staatlichen Rundfunk- und Fernsehsender ihr Programm. Die Minuten vor der eigentlichen Todesnachricht füllten sie an jenem 23. Juli 1999 mit Koranversen, um die Bevölkerung auf den Tod von Hassan II. einzustimmen. Zu Tausenden säumten die Marokkaner bald darauf die Straßen, um dem König in seinem Sarg, bedeckt von einem schwarzen, mit Koranversen bestickten Tuch, das letzte Geleit zu geben. Mit der Bevölkerung verabschiedeten auch zahlreiche Staatschefs den König, unter ihnen der damalige US-Präsident Bill Clinton, der israelische Premier Ehud Barak und der Palästinenserführer Yasser Arafat.

Wenige Tage später, am 30. Juli, übernahm Hassans ältester Sohn offiziell die Königswürde. In einer vergoldeten  Kutsche, gezogen von vier Pferden, fuhr der junge König Mohammed VI. zur Großen Moschee von Fes, um dort das Freitagsgebet zu verrichten. Gleich in seiner ersten Ansprache ging er auf Distanz zur politischen Hinterlassenschaft seines Vaters.

Zumindest ästhetisch fügte er sich in die Tradition der marokkanischen Monarchie ein. Die bei wichtigen Anlässen inszenierten Zeremonien wirken altehrwürdig. Tatsächlich aber, so der marokkanische Historiker Nabil Mouline, seien die heutigen Rituale keinesfalls traditionell, sondern stammten aus den 1930er Jahren. Sie seien damals eingeführt worden, um den Anschein historischer Kontinuität zu wahren.

Marokko König Hassan II Fernsehansprache in Rabat
Autoritärer Herrscher: der ehemalige marokkanische König Hassan II (1929-1999)Bild: picture-alliance/dpa

Politisch hingegen setzt die Monarchie ganz auf die Erfordernisse der Gegenwart. Die marokkanischen Könige hätten es immer verstanden, sich den Zeitläuften anzupassen, sagt der marokkanische Journalist Ali Anouzla im Gespräch mit der DW. "Bei allen Themen, die die öffentliche Meinung in Marokko bewegten, vermochten sie es, Tradition und Moderne in Einklang zu bringen, ohne sich dabei aber politisch ernsthaft festzulegen. Ihnen liegt vor allem daran, den Status Quo zu wahren."

Abschied von Politik der harten Hand

Folgt auch König Mohammed VI dieser Maxime? In den zwanzig Jahren seiner Amtszeit hat der König sein Land in vielen Bereichen modernisiert. Nach außen präsentiert er Marokko als weltoffenen Staat. "Heute wird das Land längst nicht mit so harter Hand regiert wie in den 60er, 70er und 80er Jahren", sagt die Islamwissenschaftlerin Sonja Hegasy, Vizedirektorin des Berliner "Leibniz-Zentrum Moderner Orient", im DW-Gespräch. Auch Menschenrechtsverletzungen existierten nicht mehr in dem Ausmaß wie zur Zeit des Vorgängers des Königs. "Trotzdem beobachten wir diese auch unter Mohammed VI. - zum Beispiel gegenüber Journalisten, die wegen nicht genehmer Meinungsäußerungen ins Gefängnis kommen. Die juristische Willkür hat zwar längst nicht mehr die Ausmaße wie unter Hassan II. Aber die Fortschritte, auf die man zunächst gesetzt hatte, sind ausgeblieben."

So habe auch die von Mohammed 2004 eingesetzte Wahrheitskommission, die die während der Regierungszeit seines Vaters begangenen Menschenrechtsverletzungen aufklären sollte, viele Hoffnungen enttäuscht. Zwar wurden die Schwachstellen in den damaligen Institutionen aufgedeckt. Doch die für die Menschenrechtsverletzungen Verantwortlichen wurden nicht zur Rechenschaft gezogen. "König Mohammed VI. mag in seinem Geist zwar liberaler als sein Vater sein", sagt Ali Anouzla. "Aber er regiert als traditioneller Monarch, der wie sein Vater an den Ritualen festhält."

Marokkanischer König Mohammed VI.
Repräsentant seines Landes: Mohammed VI. bei einer Gedenkveranstaltung zum Ersten Weltkrieg in Paris im Jahr 2018Bild: Reuters/P. Wojazer

Der König auf Reformkurs

Das hindert den König nicht, die Modernisierung seines Landes voranzutreiben. So brachte er das seit 2004 gültige neue Familienrecht auf den Weg. Dieses stärkte etwa die Rolle der Frauen: Beide Geschlechter sind formell gleichgestellt. So könnten jetzt auch die Frauen über die Auflösung der Ehe entscheiden. Bis dahin war dieser Schritt allein Männern vorbehalten. Statt muslimischer Geistlicher urteilen jetzt staatliche Richter über ein Scheidungsersuchen.

Auch für die kulturelle Vielfalt setzt der König sich ein. In der Präambel seiner Verfassung aus dem Jahr 2011 wird die nationale Identität als Zusammenschluss mehrerer regionaler Identitäten definiert. Seitdem gilt das marokkanische Tamazight als Amts- und Standardsprache.

Mit Reformen wie diesen sicherte sich der König die Sympathie und damit die Unterstützung des liberalen Bürgertums. Dieses gilt als nicht zuletzt als Bollwerk gegen die islamistische Opposition wie auch deren Einfluss auf gerade junge Menschen, die sich ökonomisch wie politisch aus der Gesellschaft ausgeschlossen fühlen.

Eine gespaltene Gesellschaft

Enttäuschte gibt es nicht wenige in dem Land. Marokko sei eine gespaltene Gesellschaft, so Sonja Hegasy. "In den letzten zehn Jahren ist die Kaufkraft der Armen noch einmal extrem gesunken. Hinzu kommen weitere Missstände. So kritisieren einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zufolge viele junge Menschen die Korruption, etwa im Gesundheitswesen. Sie führt dazu, dass die Menschen medizinisch ganz  unterschiedlich versorgt werden." Auch die Bildungspolitik stehe vielfach in der Kritik. "Auch in dieser Hinsicht ist das Land gespalten. Zum einen hat es eine stark urbane Bevölkerung - und zum anderen gibt weiterhin wenig entwickelte ländliche Gebiete, in denen junge Menschen bisweilen einen fünfstündigen Fußweg zur Schule haben."

Die gesellschaftlichen Missstände werden längst offen angesprochen. Das Land und mit ihm seine Institutionen stehen unter starkem Reformdruck. Dem kann sich auch der König nicht entziehen. "Die marokkanische Gesellschaft ist jung", sagt Ali Anouzla. "Sie modernisiert sich gerade. Und dabei zieht sie den König einfach mit."

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika