Die Geschichte der polnischen Juden
27. Oktober 2014Das Gebäude des neuen Museums wurde bereits 2013 eröffnet. Es steht vor dem berühmten Denkmal des Aufstands im Warschauer Getto, wo einst der deutsche Bundeskanzler Willy Brandt auf die Knie sank. Schon die Architektur des Museumsbaus ist einzigartig - außen ein ruhiger Quader aus Beton, Kupfer und Glas, innen viel Dynamik und Symbolik. Nicht nur architektonisch unterscheidet sich das Warschauer Museum von zahlreichen jüdischen musealen Einrichtungen in der Welt.
Hier steht nicht ausschließlich die Leidens- und Verfolgungsgeschichte polnischer Juden im Mittelpunkt. Polen brauche kein Holocaust-Museum, sagt Jerzy Halbersztadt, einer der Hauptinitiatoren des Museums, im Gespräch mit der Deutschen Welle. Er weist darauf hin, dass jeder, der etwas über den Holocaust erfahren möchte, in Polen zahlreiche authentische Orte finden kann – denn hier befanden sich die größten Vernichtungslager der Nazis, wie etwa Auschwitz-Birkenau, Treblinka oder Sobibor.
Museum des Lebens
Medien aus aller Welt berichteten über die Einzigartigkeit des jüdischen Geschichtsmuseums im Warschauer Stadtteil Muranów - einst das größte Judenviertel der Welt - das bereits im Vorfeld der Eröffnung der Dauerausstellung begeistert. Die amerikanische New York Times zitierte Sigmund Rolat, einen der ersten Förderer des Projekts, der zufrieden betonte: "Es ist kein Holocaustmuseum. Wir sind keine Opfer mehr. Das ist ein Museum des Lebens". Damit brachte der jüdische Geschäftsmann auf den Punkt, was schon Anfang der 90er Jahre als Idee für ein polnisch-jüdisches Museum entstand und später als Konzept in internationalen Expertenteams erarbeitet wurde. "Wir wollten einen Einblick in die tausendjährige Präsenz jüdischen Lebens in Polen und das polnisch-jüdische Zusammenleben vor dem Holocaust vermitteln", erklärt Halbersztadt. Gleichzeitig wolle man zeigen, dass das jüdische Leben im heutigen Polen in den letzten Jahren wieder langsam auflebe und in der Öffentlichkeit stark präsent sei.
All dies wird multimedial mittels Rekonstruktionen, interaktiven Installationen und Videoproduktionen in acht Galerien auf einer Fläche von 4300 Quadratmeter dargestellt. Die größte Galerie mit dem Namen "Vernichtung", erzählt vom Holocaust. Man kann dorthin jedoch nur über die sogenannte Jüdische Straße gelangen. "Es war unser Anliegen, nicht nur das ungeheure Drama und die unvorstellbaren Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu zeigen, sondern auch eine großartige Kultur und eine Gesellschaft, die mit vernichtet wurden. Die Reduktion auf die Rolle der Opfer hätte alle Generationen unserer Vorfahren der Identität beraubt, denn sie waren sowohl während des Krieges als auch davor nicht nur ausschließlich Opfer", bemerkt Jerzy Halbersztadt, der im Holocaust-Museum in Washington viele Jahre das polnische Programm betreute.
Erinnerung an einst blühendes jüdisches Leben
Die chronologische Erzählung der tausendjährigen Geschichte polnischer Juden im Warschauer Museum veranschaulicht, dass es weder die Kultur Polens ohne die Kultur polnischer Juden noch die polnische nationale Identität ohne die jüdische Identität gibt. Das jüdische Geschichtsmuseum will als Institution für Bildung und Kultur zukunftsweisend sein. Es will auch als "Plattform für den Dialog" das seit Jahren wieder erwachende jüdische Leben in der wachsenden jüdischen Gemeinden Polens fördern. Zehn Jahre nach dem EU-Beitritt bekennt sich Polen zu seiner Vielfalt. Vielerorts im Land, wo früher Juden wohnten, versucht man die verlorene jüdische Komponente der lokalen Identität wiederzubeleben.
Bis 1939 lebten in Polen 3,5 Millionen Juden, nach dem Zensus von 2011 sind es heute gerade noch 2000. Andere Quellen sprechen von acht bis zwölf Tausend. Es gab vor dem Krieg in Polen 996 jüdische Gemeinden. Heute sind es nur noch neun, aber es werden wieder mehr. Vor dem zweiten Weltkrieg machten die Juden in etwa 1200 Gemeinden Polens die Hälfte der Einwohner aus. Nach dem Holocaust erlosch das jüdische Leben in Polen und nach der kommunistischen Hetze gegen Juden 1968 verschwand es fast vollständig aus den Geschichtslehrbüchern und aus dem öffentlichen Bewusstsein. Nun soll die Dauerausstellung, die im Beisein der Präsidenten Polens und Israels, Bronisław Komorowski und Reuven Rivlin, im neuen Museum der Geschichte der polnischen Juden eröffnet wird, die verlorengegangene Welt wieder heraufbeschwören.
Für Jerzy Halbersztadt hat die neue Einrichtung eine große Bedeutung. "Es geht um eine Bewusstseinsbildung in der Öffentlichkeit und die Verbreitung von Wissen“, sagt er. Das könne bestimmten Stereotypen und gewissen irrationalen Reaktionen entgegenwirken, insbesondere wenn es um den modernen Antisemitismus nach dem Holocaust geht. Halbersztadt ist sich sicher, dass davon auch Inspirationen für die Gegenwart und nicht nur in Bezug auf die Juden ausgehen könnten.
Deutsches Engagement
Von der Idee bis zur Eröffnung des Museums und der lang erwarteten Dauerausstellung sind nun fast 20 Jahre vergangen. Dank der Entschlossenheit und der Durchsetzungskraft einiger weniger Menschen und ihrer Partner aus anderen jüdischen Museen und Wissenschaftlern aus anderen Ländern, sowie Geldgebern aus aller Welt, konnte man sowohl finanzielle als auch bürokratische und politische Hürden überwinden. Deutschland steuerte sechs Millionen Euro bei, etwa sieben Prozent der Gesamtkosten.
Halbersztadt und seine Kollegen erfuhren in der ersten, schwierigen Phase umfassende Unterstützung aus Deutschland vom damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog und Außenminister Joschka Fischer. Zur Grundsteinlegung 2007 kam Altbundespräsident von Weizsäcker. "Das erste Geld kam von der Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit und aus Großbritannien und man konnte damit die Ausstellungmacher bezahlen", sagt Halbersztadt, der bis 2011 der erste Direktor des Museums war. Öffentliche Gelder aus Polen kamen erst später. Mit ihnen wurde das eindrucksvolle Gebäude des finnischen Architekten Rainer Mahlamäki finanziert. Die Ausstellung dagegen wurde ausschließlich aus privaten Mitteln finanziert.
Das neue Museum der Geschichte der polnischen Juden steht für das neue Polen, betont Barbara Kirshenblatt-Gimbet. Was die Programmdirektorin der historischen Ausstellung sagt, bezieht sich auch auf das kürzlich eröffnete Solidarnosc-Zentrum in Danzig. Beide Museen betten die Ereignisse in Polen in den europäischen Kontext ein. Für die Tageszeitung "Die Welt" ein Beweis für das gewachsene Selbstbewusstsein der polnischen Demokratie.