Straßenorchester in Corona-Zeiten
21. April 2020Der Bürgersteig ist der Orchesterraum, das Autodach dient ihr als Notenpult. Allabendlich um 18 Uhr versammeln sich vor einem Haus in Berlin-Mitte - und in manchem seiner Fenster - Kinder und einige Erwachsene um Bianca Hase zum Musizieren. Ein kurzes Straßenkonzert in der Strelitzer Straße in Zeiten der COVID-19-Pandemie. Und mittendrin: die 44-jährige Hase. Sie verteilt Noten, ermuntert die Kleinsten, achtet auf die Distanz zwischen den Musizierenden, stimmt auf ihrer Querflöte die Lieder an, freut sich sichtlich an der Freude der jüngsten Akteure.
Wann sie damit begonnen hat? "Nach dem Klatschen", sagt Hase spontan. Dann muss sie selbst grübeln, wann das war. Vor gut vier Wochen standen viele in Deutschland auf Balkonen und an Fenstern und folgten dem Aufruf in sozialen Medien, in Corona-Zeiten abends um neun Beifall zu klatschen für die Ärzte und Ärztinnen, für die Pflegekräfte in der Krise. Dem folgte rasch ein Appell von Künstlern: Zum Dank sollte zur gleichen Zeit am Abend Musik gemacht werden. Da nahm Konzertflötistin Hase ihre Querflöte, stellte sich ans Fenster und spielte. Anderntags noch einmal.
"Verbindung über Distanz"
"Die Kinder waren ganz begeistert, dass ich Musik am Fenster mache", sagt die dreifache Mutter der Deutschen Welle. Freudige Reaktionen sowohl von Kindern und Erwachsenen kamen auch aus Fenstern ihres fünfgeschossigen Hauses. Bald machte ein Posaunist aus dem Nachbargebäude mit, den sie seit längerem kannte. "Es war einfach schön, über die verordnete Distanz hinweg eine Verbindung zu schaffen."
"Dann kamen Fragen aus dem Haus", erzählt Hase vom wachsenden Interesse. Schließlich wechselte die Flötistin vom Fenster in ihr Auto. Seitdem steht sie bei den Konzerten auf dem Fahrerinnensitz, den Körper aus dem geöffneten Schiebedach gestreckt. Auf dem Autoblech vor ihr kleben die Partituren. "Es ist ein Angebot für alle", sagt sie. "Aber dass so viele, Kinder und auch Erwachsene, mitmachen, hätte ich nicht gedacht."
Holz und Blech
Vier Wochen später baut sich jeden Abend rund ein Dutzend Kinder auf dem Trottoir auf. Sie haben Geigen in diversen Größen dabei; ein Cello überragt fast seine Spielerin. Blockflöten sind zu sehen, auch eine Triangel und ein Cajon, eine Holzkisten-Trommel. Hases Töchter sind mit Xylophon und Blockflöte vertreten. Und auch Erwachsene machen mit, nicht nur Eltern. Irgendwo in der vierten Etage sitzt ein Gitarrist im Fenster, andernorts ertönt eine Klarinette, Hases Mann hat einen Lautsprecher für sein Keyboard aufs Fensterbrett gestellt. Weiter oben klingt ein Blechinstrument. Irgendwo stimmen auch weitere Querflöten zaghaft ein.
Für die Organisatorin ist die Beteiligung einer Nachbarin mit Gitarre eine der schönsten Geschichten. Die hatte, berichtet Hase, der Verwandtschaft nur erzählt, wie schön es sei, die allabendliche Musik zu hören. "Da wurde sie dann daran erinnert, dass sie vor über 25 Jahren selbst Gitarre gespielt habe und das Instrument doch irgendwo noch sein müsse." Nun ist sie mit dabei. Und mittlerweile kramten auch andere Nachbarn Instrumente hervor, die sie vor vielen Jahren lernten. "Alt und Jung proben ganz intensiv", freut sich Hase. Früher, betont sie, habe sie mit vielen der Beteiligten "gar nicht so viel zu tun gehabt" - auch in ihrem eigenen Haus nicht. "Man braucht halt jemanden, der anfängt. Das zieht dann die anderen mit."
Meist spielt das bunte Straßenorchester nur zwei Stücke. "Over the rainbow" könnte das sein oder "What a wonderful world", vielleicht noch "Halleluja" von Leonard Cohen. Bekannte Klänge sind es, die Hase anbietet. Wichtig bei der Auswahl: Die Melodien sollen nicht zu kompliziert sein.
"Ein Fixpunkt"
Der abendlichen Aufführung lauschen Nachbarn in den Fenstern der gegenüberliegenden Häuser. Stets finden sich aber auch zwei, drei Dutzend Musikliebhaber auf der Straße ein. Die "Strelitzer" ist eine eher ruhige Wohnstraße mit wenig Autoverkehr. Da sei es auch schon vorgekommen, "dass ein Auto stehengeblieben ist, der Fahrer das Fenster öffnete und zuhörte". Für die Leute aus den umliegenden Häusern sei 18 Uhr mittlerweile "ein Fixpunkt des Tages". So kämen, je schöner das Wetter werde, immer mehr Zuhörer dazu.
Die schönste Szene für Bianca Hase? Sie erzählt von der alten Dame an einem der Fenster auf der anderen Straßenseite, die meist schon eine Weile vorher auf die Vorführung warte, immer dankbar zuhöre und stets klatsche. Das Essen bekomme die Dame, die dort seit über 40 Jahren wohne, von der Caritas gebracht, in Corona-Zeiten dürfe sie wohl das Haus nicht verlassen. "Aber an Ostern reichte sie eine Tüte mit Schokoladen-Eiern für die musizierenden Kinder herunter."