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Stephanie Sinclair erhält den Anja-Niedringhaus-Preis

Maya Shwayder spe
8. Juni 2017

Die US-amerikanische Fotojournalistin verleiht verletzlichen jungen Frauen Ausdruck. Was motiviert sie, dafür ihr Leben zu riskieren? Und warum trägt Washington besondere Verantwortung? Antworten im DW-Interview.

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Stephanie Sinclair - Gewinnerin des Anja Niedringhauspreis 2017
Stephanie Sinclair mit zwei der jahrelang von Boko Haram festgehaltenen "Mädchen von Chibok", NigeriaBild: IWMF/Stephanie Sinclair

Die Pulitzer-Preisträgerin Stephanie Sinclair ist seit 15 Jahren in der Welt unterwegs, um Mädchen und junge Frauen zu fotografieren, die Opfer von Gewalt, Genitalverstümmelung oder Zwangsehe geworden sind. Ob in Afghanistan, Jemen oder Indien - ihre bekannte Fotoserie "Too Young to Wed" ("Zu jung zum Heiraten") veranschaulicht in vielen Details, wie die Zwangsehe im Kindesalter das Leben junger Mädchen zerstört.

Die US-amerikanische Fotografin hat unter demselben Titel auch eine Organisation gegründet, durch die sie den Mädchen, die sie fotografiert, helfen möchte, zum Beispiel Boko Haram-Opfern in Nigeria. "Too Young to Wed" hat ihnen Stipendien, Fotografie-Kurse und Workshops zur Ermächtigung von Frauen angeboten.

Sinclair wird am 8. Juni in Washington D.C. mit dem Anja-Niedringhaus-Preis für Mut im Fotojournalismus 2017 ausgezeichnet. Der Preis ist nach der deutschen Fotojournalistin benannt, die in Afghanistan auf tragische Weise umkam. Die Pulitzer-Preisträgerin Anja Niedringhaus wurde 2014 von einem Polizisten erschossen.

Stephanie Sinclair - Gewinnerin des Anja Niedringhauspreis 2017
In Haji, Jemen, werden Sidebar (11) und Galkay (13) frischvermählt ihren Ehemännern zugeführtBild: IWMF/Stephanie Sinclair

DW: Welche Wirkung haben Fotos auf Sie, und warum haben Sie sich für dieses Medium entschieden?

Stephanie Sinclair: Für mich sind Fotografien eine der Möglichkeiten, durch die man die Kommunikation zwischen derjenigen, die die Kamera hält, und derjenigen, die vor ihr steht, nachvollziehen kann. Ich glaube, dass es dabei um Zusammenarbeit geht, ein Prozess, den ich schon immer wirklich schön fand. Dabei entsteht so etwas wie eine vertraute Beziehung. Jede Fotografie zeigt jemanden, und darüber kommuniziert das Bild mit der Öffentlichkeit, und das finde ich sehr schön.

Warum haben Sie sich thematisch auf Gender-Fragen, auf Zwangsehen von Kindern, Genitalverstümmelung und Säure-Attacken spezialisiert? Gab es einen entscheidenden Moment für diese Fokussierung, oder haben Sie sich für diese schwierigen Themen schon immer interessiert?

Meine Mutter war eine sehr starke Frau. Sie hat sehr hart für ihre Bildung gekämpft. Die Familie hat sie nicht unterstützt, als sie mit über Dreißig noch einmal etwas Neues lernen wollte. Sie haben sich über sie lustig gemacht. Ich habe es tatsächlich selbst miterlebt, wie sich ihr Leben änderte, als sie sich von einer Sekretärin zu einer Frau entwickelte, die einen Abschluss in Grafik-Design anstrebte – wie sehr das ihre Selbstachtung und ihre Arbeit beeinflusste.

Das hat mir klar gemacht, welche Macht die Bildung von Mädchen und Frauen in sich birgt. Als ich anfing, an Orten zu arbeiten, wo Mädchen solche Gelegenheiten nicht hatten, haben mich diese Themen unweigerlich mehr und mehr beschäftigt, da ich mit einem so starken Rollenvorbild aufgewachsen bin.

Stephanie Sinclair - Gewinnerin des Anja Niedringhauspreis 2017
In 30 Ländern wird Genitalverstümmelung noch praktiziert wie hier im Rahmen einer Zermemonie in IndonesienBild: IWMF/Stephanie Sinclair

Wie kann die Fotografie die Politik beeinflussen?

Ich meine, dass die Fotografie großen Einfluss auf die Politik haben kann. Es kommt darauf an, wie sie eingesetzt wird. Ich glaube nicht, dass es ausreicht, ein Foto zu machen. Ich glaube, dass das, was darauf folgt, sehr wichtig ist. Das heißt, dass man dafür sorgen muss, dass das Bild auch in Medien publiziert wird, die die Menschen erreichen, und dass man mit Partnern zusammenarbeiten muss, die Kampagnen um die Bilder herum starten können.

Wie bekommen Sie Zugang zu all den Individuen, die Sie überall in der Welt fotografiert haben?

Der Zugang ist wegen der sensiblen Themen immer schwierig. Aber ich habe festgestellt, dass die Leute das tun wollen, was am besten für ihre Gemeinschaft ist. Und ich erzähle ihnen, wie sehr Kinderehen und ähnliche Traditionen ihren Gemeinschaften schaden, dass sie die Armut fortbestehen lassen, die Mädchen anfällig für den Tod im Kindbett machen. Auch die Kinder dieser Mädchen sind gefährdet, sie werden oft zu früh geboren, und manche überleben nicht.

Wir unterhalten uns also sehr viel, ehe diese Fotos gemacht werden, und ich zeige ihnen meine bisherigen Arbeiten. Ich glaube, sie sehen, dass ich versuche, die Aufnahmen so respektvoll wie nur möglich zu machen. Einige von ihnen haben schon meine anderen Bilder gesehen und waren von den Aufnahmen berührt. Du bekommst nur Zugang, wenn dich die Gemeinschaft akzeptiert und wenn es in der Gemeinschaft auch Leute gibt, die deinen Wunsch, diese Themen publik zu machen, teilen.

Stephanie Sinclair - Gewinnerin des Anja Niedringhauspreis 2017
Ritu Saini (21, vorn im Bild) und Rupa (23), beide Opfer von Säureattacken, freuen sich auf dem Dach eines Hauses in Agra, Indien, über den Monsoon-RegenBild: IWMF/Stephanie Sinclair

Mit Ihren Arbeiten weisen Sie auf die Probleme hin, mit denen Frauen an vielen Orten der Welt konfrontiert sind. Aber was ist mit den Frauen in Ihrem Heimatland? Zum Beispiel hat Präsident Trump das Budget für staatliche Gesundheitsprogramme gekürzt. Was halten Sie davon?

Ich finde, dass sich unsere gegenwärtige politische Situation für Frauen weltweit verheerend auswirkt. Ich kann nicht begreifen, wie jemand so wenig Mitgefühl für das, was Mädchen durchmachen müssen, aufbringen kann. Ich denke, dass viele Länder der Welt auf uns schauen und gute Führung, den Schutz der Menschenrechte und der Rechte von Mädchen von uns erwarten. Wenn wir das also nicht zu unserer vordersten Aufgabe machen, geben wir für andere Länder ein schlechtes Beispiel ab.

Mädchen müssen Zugang zu Geburtenkontrolle und Gesundheitsversorgung haben. Die USA – mein Land – haben die Mittel für den Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) gestrichen. Das ist schrecklich, denn die UNFPA ist die einzige Organisation, die so etwas bereithält, in Ländern wie Nigeria, wo Mädchen von Boko Haram entführt, zwangsverheiratet und gezwungen wurden, die Kinder dieser Männer zur Welt zu bringen. Das sind die verletzlichsten Mädchen der Welt, und genau sie haben unter einer solchen Politik zu leiden.

Könnten Sie sich ein ähnliches Arbeitsprojekt zukünftig auch in den USA vorstellen?

Ja. Ich werde mich in den nächsten Jahren mehr auf die USA konzentrieren. Ich bin vor kurzem Mutter geworden, deshalb bin ich aktuell in Elternzeit. Aber wenn ich wieder arbeite, werde ich mich ganz bestimmt mehr um die USA kümmern.

Stephanie Sinclair - Gewinnerin des Anja Niedringhauspreis 2017
Die 19-jährige Zindiba in Sierra Leone verlor ihren Arm als kleines Mädchen, als sie im Bürgerkrieg versuchte, ihre Mutter zu beschützenBild: IWMF/Stephanie Sinclair

Kannten Sie Anja Niedringhaus persönlich?

Ja, wir sind uns ein paar Mal begegnet. Eng befreundet waren wir nicht, aber ich kannte natürlich ihre Arbeiten und wir hatten viele gemeinsame Freunde. Sie stand an vorderster Front, ich war ein wenig mehr zurückgezogen, aber sie hat viele Fotografen inspiriert – und nicht nur Frauen. Ich bin sehr dankbar, dass ich sie kennenlernen durfte.

Würden Sie sagen, dass Ihre Arbeiten vergleichbar sind?

Kriegsfotografin Anja Niedringhaus Archivbild 2005 Rom
Anja Niedringhaus - hier 2005 in Rom - wurde als Kriegsfotografin bekanntBild: picture-alliance/AP Photo

Ich würde sagen, dass wir ähnliche Vorstellungen dessen hatten, was wir in unseren Fotos und mit unserer Arbeit ausdrücken wollten. Wir beide gingen große Risiken ein, weil wir daran glaubten, dass die Macht der Fotografie die Welt verändern könnte – und tatsächlich auch würde. Anja setzte ihr Leben dafür ein, damit diese Geschichten erzählt würden. Ich glaube, dass sich unsere Fotos durch Menschlichkeit auszeichnen, Menschlichkeit, die sich bei uns beiden zeigt und von der wir beide hofften, dass die Betrachter sie erkennen und sich von den Menschen auf den Bildern berühren lassen würden.

Glaube Sie, dass die Tatsache, dass Sie jetzt Mutter sind, Ihren Blick auf die Dinge und Ihre Themenauswahl verändert hat?

Meine Kinder sind erst drei Monate alt, deshalb kann ich das noch nicht sicher sagen. Sie sind beide sehbehindert und auch sonst nicht ganz gesund. In gewisser Weise sind sie ein Ebenbild der verletzlichsten Mädchen, über die ich berichtet habe. Ich möchte, dass sie stolz sind und ihre Kraft empfinden, in derselben Weise wie ich hoffe, dass Mädchen in der Welt durch meine Arbeit ermächtigt werden.

 

Das Gespräch führte Maya Shwayder