Reaktion der Ukraine auf Amoklauf in Kertsch
18. Oktober 2018Es war ein Amoklauf, bei dem an einer Schule in Kertsch auf der Krim über 20 Menschen getötet wurden. Und wahrscheinlich würde niemand über politische Hintergründe spekulieren, wäre die Krim nicht so umstritten zwischen der Ukraine und Russland. Die ersten Reaktionen von Politikern, Journalisten und Bürgern zeigten, wie schwierig es ist, Emotionen zurückzuhalten, und wie leicht, übereilte Schlüsse zu ziehen. Viele äußerten sich zur Tragödie an der polytechnischen Schule, als noch von einem Terrorakt ausgegangen wurde. Sie zogen Vergleiche zu einer Geiselnahme in Beslan in Nordossetien (2004), obwohl schon nach wenigen Stunden klar war, dass es sich um einen Amoklauf handelt ähnlich dem an der Columbine High School im US-Bundesstaat Colorado im Jahr 1999.
"Man hat aus Kertsch ein Beslan gemacht", schrieb Osman Paschajew, Journalist des in Kiew ansässigen krimtatarischen Fernsehsenders ATR. Er betonte, dass es auf der "ukrainischen Krim keinen Terrorismus" gegeben habe. Der russische Journalist Arkadi Babtschenko, der auch für den Sender arbeitet und in Kiew lebt, ging sogar noch weiter. Dass es auf der Krim zu "Terroranschlägen" kommen werde, sei jedem klar gewesen, der die russische Wirklichkeit kenne. Babtschenko schrieb auf Facebook, dass der russische Geheimdienst FSB hinter den Ereignissen in Kertsch stecken könnte, und wandte sich an die Einwohner der Krim: "Das ist jetzt Eure Wirklichkeit. Gewöhnt Euch daran."
Beileid, aber ...
Schnell verbreiteten sich in den ukrainischen Medien die Berichte über Explosionen und Schüsse an der polytechnischen Schule in Kertsch, aber auch die Meldung aus Russland, es handele sich um einen Terrorakt. Nach wenigen Stunden sprachen Präsident Petro Poroschenko und Premierminister Wolodymyr Hrojsman den Angehörigen der Getöteten und Verletzten ihr Beileid aus und unterstrichen dabei, dass Kiew die Halbinsel als von Russland besetzt betrachte und dass es sich bei den Menschen dort um ukrainische Staatsbürger handele.
Auch viele ukrainische Journalisten, Blogger und einige Politiker äußerten ihr Beileid, vermuteten aber zugleich eine Provokation russischer Geheimdienste mit dem Ziel, die Konfrontation mit der Ukraine weiter anzuheizen. Anlass zu solchen Befürchtungen gab der Staatsratsvorsitzende der Krim, Wladimir Konstantinow, selbst. Er behauptete im russischen Staatsfernsehen, die Ukraine habe mit dieser Sache etwas zu tun. "Der Wind weht aus der Ukraine", sagte er.
Die Reaktion der ukrainischen Politiker auf die Ereignisse in Kertsch können so zusammengefasst werden: "Wir leiden mit, denn dies sind unsere Leute; aber das hätte nicht sein müssen, wäre die Krim nicht annektiert worden." Auch der Parlamentsvorsitzende Andrij Parubij, Mitglied der regierenden Partei "Volksfront", sprach den Opfern sein Beileid aus und betonte dabei: "So etwas hat es auf der ukrainischen Krim nie gegeben."
Aufrichtigkeit unter Beweis stellen
"Kertsch gehört zur Ukraine ... mein aufrichtiges Beileid an die Familien der Opfer", schrieb auf Facebook Iryna Heraschtschenko, Abgeordnete der Partei "Block Petro Poroschenko". "Es besteht das großes Risiko, dass das Besatzungsregime diese schrecklichen Ereignisse, die es wahrscheinlich selbst provoziert hat, ausnutzt, um auf der besetzten Halbinsel wahren Terror zu entfalten", so Heraschtschenko. Es schmerze sie zutiefst, "in was sich die einst von Tourismus geprägte Krim verwandelt hat."
Auch Außenminister Pawlo Klimkin, selbst gebürtiger Russe, äußerte sich zu den Ereignissen in Kertsch: "Vor allem möchte ich nicht, dass die ukrainischen Reaktionen auf die Tragödie in Kertsch als zynisch bezeichnet werden. Wir leiden mit den Familien der Opfer. Aber die Frage ist berechtigt: Wäre ein solcher Horror ohne die Atmosphäre möglich, die in Russland herrscht, und die es auf die friedliche Halbinsel gebracht hat?" Klimkin beendete seinen Eintrag auf Twitter mit dem Hashtag #CrimeaIsBleeding (Die Krim blutet).
Oleksandra Matwijtschuk von der Bürgervereinigung "Euromaidan SOS" schrieb auf Facebook, jetzt müsse die Ukraine "die Aufrichtigkeit ihres Slogans #CrimeaIsUkraine (die Krim gehört zur Ukraine) unter Beweis stellen". Sie betonte, in Kertsch seien ukrainische Bürger getötet worden, die auf ukrainischem Territorium gelebt hätten, das nur vorübergehend besetzt sei. Genau darauf sollte man den Schwerpunkt in der Medienberichterstattung und in den Reaktionen zu diesem Thema legen, so Matwijtschuk.
Staatstrauer anordnen?
Die Ukraine und ihre Führung hätten sich insgesamt richtig verhalten, meint der Kolumnist der ukrainischen Zeitung "Lewyj Bereg", Konstantin Wetrow. Diejenigen, die Schadenfreude zeigen würden, seien in der Minderheit. "Das einzige, was hätte getan werden sollen, war eine landesweite Trauer in der Ukraine anzuordnen", schrieb Wetrow und fügte hinzu: "In Russland hat man das nicht gemacht, was auch symptomatisch für dieses Regime ist." Eine dreitägige Trauer wurde nur auf der Krim angeordnet.
Für eine Staatstrauer in der Ukraine setzt sich Oleksandr Wilkul ein. Er ist der Führer des "Oppositionsblocks", dem Mitglieder der einstigen unter Präsident Wiktor Janukowitsch regierenden "Partei der Regionen" angehören. Er legte dem Parlament eine entsprechende Entschließung vor. Doch nach Ansicht von Beobachtern hat sie nur geringe Erfolgschancen.