Nach Beslan: Trauer und wachsende Zweifel
6. September 2004"Es gibt nicht eine Familie in Beslan, die nicht einen Toten zu beklagen hat", sagte Bürgermeister Boris Urtajew. Auf dem neuen Friedhof der kleinen Stadt im Kaukasus begannen am Montag (6.9.04) die Massenbeerdigungen der Opfer des blutigen Geiseldramas. Vor der zerschossenen Schule legten Trauernde rote Nelken und gefüllte Wasserflaschen nieder - in Erinnerung an die Kinder, die zwei Tage lang ohne Wasser und Nahrung auskommen mussten.
Keine genauen Zahlen
Landesweit wehen die Fahnen auf Halbmast und im Moskauer Kreml kam Präsident Wladimir Putin mit der russischen Regierung zu einer Trauerfeier zusammen. "Mit der Seele und dem Herzen sind wir heute alle dort - in Nordossetien, in Beslan", sagte Putin. Er hatte eine zweitägige Staatstrauer für die Opfer des Geiseldramas in der nord-ossetischen Stadt Beslan angeordnet.
Die Opferzahl beläuft sich mittlerweile nach offiziellen Angaben auf 338, unter ihnen mehr als 150 Kinder. Doch allein die größte Leichenhalle der Region in Wladikawka zählte bereits bis zum Samstagabend 394 Tote. In den Krankenhäusern versorgen die Ärzte immer noch 377 Verletzte, doch auch hier ändern sich die Zahlen ständig und widersprechen sich zum Teil.
Verharmlosung aus dem Kreml
Während am Sonntag bereits die ersten Opfer des Geiseldramas in Beslan beerdigt wurden, mischen sich in die Trauer der Angehörigen auch immer mehr Kritik und Zweifel an der Informationspolitik der russischen Behörden: Bereits kurz nach Erstürmung der Schule war den meisten Bewohnern Beslans klar, dass dort mindestens 1200 Menschen gefangen sein müssten - so viele Kinder, Lehrer und Eltern waren zum Einschulungsfest gekommen. Als sei die Tragödie zu verharmlosen, beharrte die Regierung auf 350 Geiseln und die Staatsmedien plapperten nach. Die russische Internet-Zeitung "gazeta.ru" berichtete, dass das Personal in zwei Krankenhäusern seine Handys habe abgeben müssen, damit keine Informationen nach draußen dringen könnten.
Verbindungen zu Islamisten?
Ebenso gebetsmühlenartig wiederholen offizielle Stellen die Beteiligung ausländischer Täter: Die Nachrichtenagentur ITAR-Tass zitierte einen nicht näher identifizierten hochrangigen Geheimdienstbeamten mit der Aussage, unter den Geiselnehmern seien ein Schwarzer und neun Araber gewesen, die vermutlich aus dem südlichen Teil der arabischen Halbinsel stammten. Seit den Anschlägen vom 11. September war Russland stets bemüht, den Tschetschenien-Konflikt als Teil des Kampfs gegen den internationalen Terrorismus darzustellen.
Mehrere Geiseln hingegen erklärten nach ihrer Befreiung, sie hätten die Terroristen für Tschetschenen gehalten. Ein Anwohner sagte, die Leichen der von den Sicherheitskräften getöteten Geiselnehmer hätten nicht wie Araber ausgesehen.
Uneinigkeit unter den Rebellen
Derweil verbreitete der Fernsehsender "Channel One" Bilder des Mannes, der nach Angaben des stellvertretenden Generalstaatsanwalts Sergej Fridinski an dem Überfall auf die Schule in Beslan beteiligt gewesen sein soll. In einer Reportage des Senders war ein Mann zu sehen, der auf russisch mit starkem kaukasischen Akzent sagte: "Bei Allah, ich habe nicht getötet. Bei Allah, ich habe nicht geschossen." Auf die Frage des Reporters, ob ihm die als Geiseln genommenen Kinder nicht leid getan hätten, antwortete der Mann: "Doch, sie taten mit leid. Ich habe selbst auch Kinder."
Seinen Aussagen zufolge sei es unter den insgesamt 32 Geiselnehmern nach der Erstürmung des Schulgebäudes zu einem tödlichen Streit gekommen. Einige der Terroristen hätten von ihrem Anführer verlangt, die Kinder frei zu lassen. Daraufhin habe der Anführer einen seiner Gefolgsleute erschossen und die Sprengstoffgürtel am Körper zweier so genannter "Schwarzer Witwen" ferngezündet.
Geteilte Meinung in Berlin
Während sich Bundeskanzler Schröder seit Beginn des Geiseldramas mit Kritik am russischen Vorgehen im Kaukasus und der restriktiven Informationspolitik des Kremls zurückhält, sagte die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung Claudia Roth von den Grünen im DW-Gespräch: "Es ist eine Politik, die regelmäßig Moskauer Statthalter in Tschetschenien installiert, eine Politik, die versucht, von Normalisierung und Tschetschenisierung zu sprechen und von Wahlen sprach, die faktisch keine Wahlen waren." (ina)