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Es geht um die Deutungshoheit

Wolfgang Dick8. März 2016

Der EU-Gipfel hat noch kein klares Signal zur Flüchtlingskrise ausgesendet. Welche Auswirkungen diese Unsicherheit auf die drei Landtagswahlen haben könnte, erläutert der Politikwissenschaftler Oskar Niedermayer.

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Brüssel EU-Türkei Gipfel- Angela Merkel
Bild: picture-alliance/dpa/O. Hoslet/Pool

DW: In Sachsen-Anhalt, in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg werden am kommenden Sonntag neue Landesregierungen gewählt. Das Thema Flüchtlinge ist weiter beherrschend. Inwieweit werden rechte Parteien die Situation nutzen können?

Oskar Niedermayer: Das ist schon zu befürchten, weil der Gipfel eben nicht den Befreiungsschlag und nicht den absoluten Durchbruch gebracht hat, den Frau Merkel sich erhofft hatte.

Es kommt jetzt natürlich darauf an, wer die Deutungshoheit über den Gipfel in den nächsten Tagen in den Medien bekommt. Ob sich Frau Merkels Deutung durchsetzt, die von einem Durchbruch spricht oder ob sich die eher kritischen Kommentare durchsetzen. Ich vermute jedenfalls, dass der Gipfel nicht dazu beigetragen hat, die Wahlaussichten der AfD zu verringern.

Könnte es sogar erdrutschartige Gewinne für die AfD geben, wenn die Partei darauf verweisen würde, Brüssel habe wieder einmal nicht viel erreicht?

Nein, ich glaube nicht, dass die Zustimmung zur AfD exorbitant nach oben aussschlagen wird, denn es ist in Brüssel ja alles in der Schwebe gehalten worden. Der Tenor der Medien ist ja auch nicht, Frau Merkel ist mit ihrer Politik endgültig gescheitert. Das wäre etwas anderes, wenn sich diese Interpretation durchsetzen würde.

Eine Überraschung wie die zweistelligen Ergebnisse für die AfD bei der hessischen Kommunalwahl sehen Sie also nicht?

Ich denke schon, dass die momentanen Umfragen die Stärkeverhältnisse der AfD und der anderen Parteien am kommenden Sonntag wiederspiegeln werden. Denn ein gravierender Last-Minute-Swing, der die Ergebnisse dramatisch verändert, der wäre nur zu erwarten gewesen, wenn der Gipfel mit einem wirklichen Durchbruch geendet wäre.

Politologe Oskar Niedermayer
Oskar Niedermayer, PolitologeBild: picture-alliance/dpa

Merkel hätte dann sagen können, damit ist meine Art die Krise anzugehen, erfolgreich verlaufen, und die Politik hat wieder voll die Kontrolle über dieses Problem. Aber selbst wenn dann die Zustimmung für die AfD um die Hälfte zurückgeht, würde die Partei immer noch über die 5 Prozent-Hürde kommen und in die Landtage einziehen können. Man darf auch nicht vergessen, das Thema Flüchtlingspolitik wird uns, auch wenn die Zahl der Flüchtlinge deutlich zurückgehen sollte, weiterhin beschäftigen und das die nächsten Jahre und Jahrzehnte durch die Fragen der Integration derer, die dann hier sind.

Welche anderen Parteien könnten denn von der Lage nach dem EU-Gipfel profitieren?

Die zweite Partei, die profitieren könnte, ist die FDP. Denn die fährt in allen drei Landtagswahlkämpfen die Linie, sich als demokratische Alternative zur AfD zu profilieren, also zu sagen, wir sind auch gegen die Flüchtlingspolitik von Frau Merkel, grenzen uns aber eindeutig von nazistischen und nationalistischen Argumentationen ab. Das scheint ja durchaus Früchte zu tragen, wenn man sich die Umfrageergebnisse der FDP anschaut.

Wird die rechtsextreme NPD zulegen?

Nein, das befürchte ich nicht. Die bisherigen Umfragen deuten in keiner Weise darauf hin, dass die NPD jetzt wirklich erstarken würde, und ich bin immer noch davon überzeugt, dass vor allen Dingen die bürgerlichen Protestwähler in ihrem Protest nicht so weit gehen, eine eindeutig rechtsextreme Partei zu wählen, um den Regierungsparteien einen Denkzettel zu erteilen.

Was bedeutet die Verlängerung der Verhandlungen auf EU-Ebene für die Kanzlerin?

Man will innerhalb der CDU Frau Merkel nicht wirklich beschädigen oder gar einen Putsch gegen sie anzetteln. Andererseits will man sie drängen, ihre Politik im Bereich der Flüchtlingsfrage zu verändern. Deswegen: selbst wenn die Landtagswahlen jetzt sehr schlecht ausgehen werden für die Union, glaube ich nicht, dass es einen innerparteilichen Putsch geben wird, bei dem ein innerparteilicher Gegner sie direkt im Amt herausfordert. Das will niemand in der CDU auf sich nehmen, ein Königinnenmörder zu werden. Die spannende Frage ist dann, wie wird der Unmut in der Fraktion kanalisiert, wenn es dramatische Einbrüche geben sollte bei den Wahlen am Sonntag.

Was passiert, wenn die Verhandlungen mit der Türkei komplett platzen?

Dann wird sich in Deutschland die gesellschaftliche Situation deutlich verschärfen und da habe ich ganz große Befürchtungen, dass die gesellschaftliche Spaltung sich weiter verschärft und verstärkt, dass die beiden Seiten noch unversöhnlicher aufeinander reagieren und dass das mittelfristig der Nährboden ist für Veränderungen im Parteiensystem. Eine Bewegung dahin, dass sich die AfD tatsächlich etabliert.

Oskar Niedermayer ist Politikwissenschaftler an der FU Berlin und leitet dort seit 1993 das Otto Stammer-Zentrum. Seine Forschungsschwerpunkte sind politische Einstellungen und Verhaltensweisen, Parteien und Wahlen.

Das Gespräch führte Wolfgang Dick.