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Politik

Krawalle: Drohen französische Verhältnisse?

21. Juli 2020

Nach dem Schock von Stuttgart die Randale von Frankfurt: Große Gruppen junger Männer hatten Polizisten angegriffen, die Innenstadt verwüstet. Die Gewaltausbrüche erinnern an Ausschreitungen in französischen Vorstädten.

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Mitarbeiter der Stadtreinigung beseitigen am Morgen vor der Alten Oper Scherben der zertrümmerten Scheiben einer Bushaltestelle
Bild: picture-alliance/dpa/F. Rumpenhorst

Schon zum zweiten Mal innerhalb dieses Sommers hat eine deutsche Großstadt eine Eruption von Gewalt erlebt: Zuerst im Juni in Stuttgart, am vergangenen Wochenende dann in der hessischen Finanzmetropole Frankfurt. Beide Male gingen Hunderte vornehmlich junger Männer höchst aggressiv gegen Polizisten vor, zertrümmerten Fensterscheiben, schleuderten Müllcontainer auf die Straßen. In Stuttgart waren sogar Läden geplündert worden. Videoaufnahmen aus Frankfurt zeigen Männer, die Glasflaschen auf Polizeibeamte werfen und bei jedem Treffer jubelnde Umstehende.

Polizisten stehen hinter umgefallene Mülltonnen an der Alten Oper in Frankfurt am Main
Frankfurts Opernplatz: Konfrontation junger Männer mit der PolizeiBild: picture-alliance/dpa/Hit Radio FFH

Beide Gewaltexzesse haben in Deutschland gleich mehrere Debatten aufgeworfen: Welche Rolle spielen die Corona-Einschränkungen dabei, dass sich in diesem Sommer die Stimmung nachts auf öffentlichen Plätzen besonders heftig entlädt? Wie wichtig ist es zu erwähnen, dass die Mehrheit der Randalierer offenbar einen Migrationshintergrund hat? Und: Drohen auch in Deutschland Zustände wie in den französischen Banlieues?

Brandbeschleuniger Corona

Corona habe als eine Art Brandbeschleuniger gewirkt, sagt der Politikwissenschaftler Stefan Luft im Gespräch mit der DW. Die Pandemie sei aber nicht die zentrale Ursache für die Gewalt. Eine Einschätzung, die auch der Kriminologe Dirk Baier teilt; er ist Leiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. "Es gärt unter den Jugendlichen. Corona hat zu einem hohen Level an Frustration geführt, aber da muss schon noch mehr zusammenkommen", sagt Baier der DW.

Kriminologe Dirk Baier
Schweizer Blick auf Gewalt in Deutschland: Kriminologe Dirk BaierBild: ZHAW

Die "Zutaten" der Gewalt seien im Grunde jedes Wochenende gegeben: Es fließe Alkohol, zu später Stunde nähmen die Konflikte zu. Dann greife die Polizei ein, in der Folge eskaliere die Situation. "Es braucht offenbar eine genügend hohe Anzahl junger Männer, die ein Stück weit alle Hemmschwellen verloren haben und die schon in der Vergangenheit durch aggressives Verhalten auffällig gewesen sind." Wenn ausreichend viele solcher Menschen beisammen seien, könne eine kritische Masse entstehen, analysiert Baier: "Dann kann es zu dieser Explosion kommen." In Frankfurt war das anscheinend der Fall: Laut Polizei ist der überwiegende Teil der 39 Festgenommenen wegen Delikten wie Diebstahl oder Drogenhandel bereits polizeibekannt.

Migrationshintergrund – na und?

Sowohl in Stuttgart als auch in Frankfurt hatte ein erheblicher Anteil der Randalierer einen Migrationshintergrund - in Stuttgart etwa die Hälfte, in Frankfurt spricht die Polizei von einem "überwiegenden" Anteil. Wobei noch vollkommen ungeklärt ist, was genau Migrationshintergrund bedeutet, also ob es sich dabei beispielsweise um Asylbewerber oder Deutsche mit Migrationsgeschichte handelt.

Ein Mitarbeiter vom THW hilft nach den schweren Ausschreitungen beim Aufräumen und Absichern der beschädigten Geschäfte in Stuttgart
Stuttgart: Aufräumen nach den Plünderungen Ende JuniBild: picture-alliance/dpa/Sdmg/S. Kohls

Das hat zu einer Debatte geführt, inwieweit der Faktor Migration zur Gewaltspirale beitrage. Vertreter der rechtspopulistischen Partei Alternative für Deutschland (AfD), aber auch der konservativen CDU, beklagen einen Verfall der inneren Sicherheit auf Grund einer gescheiterten Integration. Andere befürchten eine Stigmatisierung von Deutschen mit Migrationshintergrund.

Auch Politikwissenschaftler Luft sieht in einer misslungenen Integration eine Erklärung für den Gewaltausbruch unter den jungen Männern in Stuttgart und Frankfurt: "Sie haben eine gespaltene Identität. Auf der einen Seite distanzieren sie sich von der Herkunftsgesellschaft und auch der Elterngeneration, sind aber andererseits in der Aufnahmegesellschaft noch nicht angekommen. Und dementsprechend bewegen sie sich in einer Subkultur, in der dann solche Eskalationen von Gewalt passieren."

Für den Kriminologen Baier kann der Migrationshintergrund nur ein Ausgangspunkt sein. Man dürfe nicht dabei stehen bleiben. "Es ist nicht der Migrationshintergrund, der Gewalt erzeugt, sondern die damit verbundenen bestimmten biographischen Belastungen. Und diese Belastungen müssen wir uns anschauen." Dazu zähle beispielsweise, dass Migranten stärker von Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit betroffen seien.

Der Kriminologe aus Zürich hält aber auch fest, dass es unter Menschen mit Migrationshintergrund verstärkt "gewaltorientierte Männlichkeitsnormen" gäbe. "Das sind junge Männer, die sonst nicht viel mehr haben als ihre Körperlichkeit. Die wahrscheinlich nicht besonders gut integriert sind, was Schule, Ausbildung, Beruf anbelangt. Und die wahrscheinlich eine Biografie der Gewalt mit sich tragen, da sie womöglich schon in der Kindheit und in der eigenen Familie Gewalt erlebt haben", sagt Baier.

Französische Verhältnisse?

Unabhängig davon, welche Rolle Migration für die Krawalle spielt: Die Gewalt in Stuttgart und Frankfurt hat Assoziationen mit Ausschreitungen in den französischen Vorstädten geweckt. In den Banlieues ist der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund sehr hoch, die sozialen Verhältnisse sind oft schlecht. Alle paar Jahre eruptiert die gesellschaftliche Spannung in Gewalt und zieht eine Schneise der Verwüstung durch die Vorstädte. Die Bilder ähneln jenen, die nun auch aus Frankfurt kamen. Und noch eine Parallele fällt auf: der Hass auf die Polizei.

Auslöser für eine der größten Ausschreitungen 2005 in Frankreich war der Tod zweier Jugendlicher nach einer Verfolgungsjagd mit der Polizei. Auch in Stuttgart und Frankfurt folgten die Krawalle auf Polizeieinsätze: In Stuttgart wegen einer Drogenkontrolle; in Frankfurt wollten Polizisten nach einer Schlägerei einer verletzten Person helfen. "Das hat auch damit zu tun, wie in den vergangenen Wochen über die Polizei gesprochen wurde", vermutet Kriminologe Baier. Der deutschen Polizei sei permanent Rassismus vorgeworfen worden, ohne zu wissen, ob das überhaupt der Fall sei. "Gerade für Menschen mit Migrationshintergrund ist das ein Narrativ, mit dem der Polizei begegnet wird: Jetzt kommen die auf mich zu, weil ich Migrant bin, wie das ja überall auf der Welt ist und dagegen setze ich mich zur Wehr." Die Situation in Stuttgart sei nach einer "Paradesituation" eskaliert. "Es wird immer gesagt, dass Polizisten bei Drogenkontrollen rassistisch handeln würden. Und genau bei einer Drogenkontrolle ist es dann eskaliert", erinnert Baier.

Ein Feuerwehrmann versucht, im Stadtviertel Cite de l'Europe in Aulnay-sous-Bois, einem nördlichen Vorort von Paris, ein brennendes Auto zu löschen
Gewalt in den Vorstädten von Paris 2005, nach dem Tod zweier JugendlicherBild: STEPHANE DE SAKUTIN/AFP/Getty Images

Trotz mancher Ähnlichkeiten: Einiges spricht gegen eine Parallele zu den französischen Banlieues. "Wir haben diese Extreme der sozialen Polarisierung in unseren Städten nicht", hat Politikwissenschaftler Luft beobachtet. Ohnehin waren in Frankfurt 29 der 39 Tatverdächtigen aus umliegenden Städten angereist. Eine Explosion der Gewalt aus einem abgehängten Stadtviertel heraus ist also nicht ersichtlich. Dennoch müsse man aufpassen, warnt Luft. Städte sollten etwa den sozialen Wohnungsbau verstreut fördern, damit sich nicht ganze Siedlungen sozial Abgehängter bildeten.

Auch Kriminologe Baier erwartet keinen Flächenbrand mit Gewalt-Schlagzeilen im Wochentakt: "Deutschland ist eine stabile Gesellschaft; die Polizei wird reagieren".

In Frankfurt wurden inzwischen erste Maßnahmen beschlossen: Der Opernplatz – Schauplatz der Exzesse des letzten Wochenendes – wird ab ein Uhr nachts gesperrt. Auffälligen Personen soll verboten werden, die Stadt zu betreten. Die Polizei sei dazu in der Lage, öffentliche Plätze zu schützen, sagt Politikwissenschaftler Luft. Aber: Es müsse auch der politische Wille dazu da sein - und man müsse sie ihre Arbeit tun lassen.