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PolitikUkraine

Nach Russland deportiert: Das Schicksal ukrainischer Kinder

Hanna Sokolova-Stekh | Mikhail Bushuev
31. Januar 2024

Rund 400 Kinder aus der Ukraine wurden laut offiziellen Angaben nach Russland deportiert und in russischen Familien untergebracht. Wie geht es ihnen in den Adoptivfamilien?

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Eine Ukrainerin umarmt ihre beiden kleinen Kinder
Eine Ukrainerin, der es gelang, ihre Kinder aus Russland zurückzuholenBild: Valentyn Ogirenko/REUTERS

Kostjas Dorf wurde gleich zu Beginn von Russlands Invasion der Ukraine Ende Februar 2022 besetzt. Doch für den 14-Jährigen, der mit seinen älteren Schwestern und seinem pflegebedürftigen Vater im Dorf Kosazke in der Region Cherson lebte, sollte es noch schlimmer kommen: Ausgerechnet als Kostja Hilfe holen ging, wurde seine Familie ins russisch besetzte Nowa Kachowka evakuiert, wo es damals keine Kämpfe gab. "Als ich zurückkam, war meine Familie weg. Im Bus war wohl kein Platz mehr", sagt Kostja, der einige Monate allein lebte. "Ich weiß nicht, warum sie mich nicht holen konnten, darüber war ich ein wenig enttäuscht", sagt er. Vertreter der Besatzungsverwaltung boten ihm schließlich an, in ein russisches Lager in Anapa an Russlands Schwarzmeerküste zu gehen. Von dort wurden Kinder an andere Orte verteilt.

Kostja ist eines von 19.500 Kindern, die laut den ukrainischen Behörden illegal nach Russland und in die russisch besetzten Gebiete der Ukraine deportiert wurden. Wie die ukrainische Kinderrechtsbeauftragte Daria Herasymtschuk im Gespräch mit der DW sagt, umfasst diese Zahl auch Kinder, die mit ihren Eltern nach Russland ausgereist sind, weil die Familien zu diesem Schritt wegen des russischen Angriffs gezwungen wurden. Der Internationale Strafgerichtshof in den Haag erließ im März 2023 einen Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin und seine Kinderbeauftragte Maria Lwowa-Belowa wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen in der Ukraine. Den beiden wird die Verschleppung ukrainischer Kinder nach Russland vorgeworfen.   

Eine neue Familie in Russland

In Anapa wurde Kostja gesagt, er komme in ein Heim, sollte seine Familie ihn nicht holen. Kostja, der keinen Kontakt zu seiner Familie hatte, gelang es, seine Schwester anzurufen. "Ich sagte ihr: Tut etwas, holt mich hier raus", erinnert er sich. Doch seine noch minderjährige Schwester konnte nichts für ihn tun.

Bald darauf informierte die russische Vormundschaftsbehörde Kostja, sie habe für ihn nahe Anapa Adoptiveltern gefunden. Kostja, der keine neue Familie suchte, stimmte letztlich zu. "Ich habe noch nie so fröhliche Eltern gesehen", sagt er. Die Adoptiveltern sind Ukrainer aus Donezk. Nach der russischen Besetzung des Donbass im Jahr 2014 zogen sie nach Russland und erhielten dort vermutlich die russische Staatsbürgerschaft. "Sie sagten über sich, sie seien Ukrainer. Bei ihnen hingen die Flagge und das Wappen der Ukraine, aber auch das russische Wappen, denn schließlich sind sie in Russland", erzählt Kostja, der ihr drittes Adoptivkind wurde.

Der Menschenrechtsbeauftragte Dmytro Lubinez sitzt am Schreibtisch seines Büros
Der Menschenrechtsbeauftragte Dmytro Lubinez: Alle Kinder aus russischen Familien sollen zurückgeholt werden Bild: Hanna Sokolova-Stekh/DW

Nach Angaben des Menschenrechtsbeauftragten des ukrainischen Parlaments, Dmytro Lubinez, wurden bereits rund 400 Kinder von russischen Familien adoptiert. Der bekannteste Fall ist der eines Mädchens, das von einem Waisenhaus in Cherson weggebracht wurde. Journalisten fanden heraus, dass sie vom Abgeordneten der russischen Staatsduma, Sergej Mironow, und seiner Frau adoptiert wurde.

Die ukrainische NGO "Regionales Zentrum für Menschenrechte" hat den Aufenthaltsort von 378 ukrainischen deportierten Kindern ermittelt. Im Gegensatz zu einem Kind unter Vormundschaft gelte ein adoptiertes Kind als leibliches, erläutert Kateryna Raschewska, Expertin der NGO, und fügt hinzu: "Eltern können den Vor- und Nachnamen, den Geburtsort und das Geburtsdatum innerhalb von sechs Monaten ändern. Dann kann man das Kind nicht mehr finden."

Wer sind die Vormunde?

Aktivisten der NGO haben bislang die Namen von 69 Adoptiveltern herausgefunden. Demnach ziehen fast alle der Familien mehrere Adoptivkinder groß. Die meisten, so Raschewska, seien Lehrer und Militärs - darunter solche, die in beiden tschetschenischen Kriegen gekämpft haben, aber auch Kulturschaffende und Kirchenvertreter sowie Aktivisten und Mitarbeiter gemeinnütziger Stiftungen.

Die DW konnte mit einem russischen Vormund, Wladimir (Name geändert), aus der Region Moskau sprechen. Neben anderen Kindern, die seine Familie in Obhut hat, zieht Wladimir nun auch Maksym (Name geändert) auf, der keine Eltern mehr hat. Maksym wurde zusammen mit anderen Waisen zwei Tage vor der russischen Invasion im Februar 2022 aus der sogenannten "Volksrepublik Donezk" ins russische Kursk gebracht. Dort erhielt er die russische Staatsbürgerschaft, um, wie Wladimir sagt, kostenlos medizinisch versorgt werden zu können.

Werbeplakat für die russische Staatsbürgerschaft an einer Straße im besetzten Donbass
Werbung für die russische Staatsbürgerschaft im besetzten DonbassBild: dpa/AP/picture alliance

Bevor Wladimirs Familie ihn aufnahm, hatte Maksym im von Russland besetzten Donezk in einem Internat gelebt, ohne seine leiblichen Eltern zu kennen. Maksym habe zunächst negativ über die Ukraine und die Ukrainer gesprochen und gesagt, wenn er erwachsen sei, würde er nach Donezk zurückkehren, so Wladimir. Der Mann betont, seine Familie sei gegen die russische Aggression. Wladimir beteuert, er habe Maksym erläutern müssen, dass Russland die Ukraine angegriffen habe und nicht umgekehrt. "Wir betonen immer die Würde der ukrainischen Nation und ihr Recht auf Selbständigkeit. Alle unsere Kinder kennen unsere Position, und er auch", versichert Maksyms Vormund.

Wer ist verantwortlich?

Solche Position der russischen Vormunde scheint eher eine Ausnahme zu sein. Der Ombudsmann Dmytro Lubinez sagt, den deportierten Kindern drohe in den russischen Familien eine Umerziehung: "Man sagt ihnen: 'Du bist Russe und sprichst Russisch. Du vergisst alles, was vorher war und beginnst ein neues Leben. Du gehst zur Schule und bekommst russische Papiere. Du wirst als wahrer Russe erzogen und sollst dankbar sein, dass wir dich gerettet haben." Lubinez sieht die Rechte ukrainischer Kinder in russischen Familien verletzt, insbesondere das Recht auf Bewegungsfreiheit und den Gebrauch der eigenen Muttersprache.

Der russische Vormund Wladimir sagt, er fürchte sich nicht vor Verantwortung. "Würde mich ein internationales Gericht für schuldig erklären, würde ich dazu stehen. Aber mein Gewissen ist rein, weil ich keine kriegerischen, aggressiven Motive verfolge. Wir wollen dem Kind in seiner Situation einfach helfen", so der Mann.

Kateryna Raschewska vom "Regionalen Zentrum für Menschenrechte" in Kiew meint hingegen, dass die Unterbringung der Kinder in russischen Familien ein Verbrechen sei. Die Vereinten Nationen würden die Adoption von Kindern durch eine der Konfliktparteien verbieten. Zudem müsse die Erziehung durch einen Vertreter derselben kulturellen und ethnischen Gruppe erfolgen, zu der das Kind gehöre. "Die Adoption selbst wird wahrscheinlich als Völkermord eingestuft", so die Expertin.

Sie besteht aber nicht darauf, dass die Vormunde eine Schuld tragen. Verantwortlich seien die russischen Behörden und Gouverneure der russischen Regionen. Gerade sie hätten, so Raschewska, ein System von Belohnungen für Familien geschaffen, die ukrainische Kinder aufnehmen. In der Verantwortung sieht sie ferner die Kinderbeauftragten in den russisch besetzten Gebieten sowie den Staatschef Wladimir Putin und die Kinderbeauftragte Lwowa-Belowa.

Wiedersehen mit der Familie

Kostja aus der Region Cherson verbrachte weniger als einen Monat bei der Familie nahe Anapa. Seine Schwester, die in der Zwischenzeit volljährig wurde, kontaktierte ihn und bot ihm an, in die Ukraine zurückzukehren. Kostja lehnte zunächst ab und schrieb, er habe sich bereits am neuen Ort eingelebt. Doch er änderte mehrmals seine Meinung. "Ich zögerte, weil wir eingeschüchtert wurden. Ich dachte, in der Ukraine würde ich nichts zu Essen bekommen, und in Russland wurde mir alles versprochen", so Kostja. Schließlich sprach er mit seinen Adoptiveltern. "Sie sagten, die Entscheidung liege bei mir. Aber sie rieten mir, zu bleiben. Sie schlugen sogar vor, meine ganze Familie sollte nach Russland ziehen", erinnert sich Kostja. Letztlich entschied er, in die Ukraine zurückzukehren, weil er seine Familie sehen wollte, die inzwischen von Cherson nach Tschernihiw gezogen war.

Ein Junge schaut aus dem Fenster im Zug in Farben der ukrainischen Flagge
Ein Kind in einem Evakuierungs-Zug im November 2022 in der Region DonezkBild: Anatolii Stepanov/AFP

"Als ich an der Grenze die ukrainische Flagge und das ukrainische Wappen sah, hatte ich sofort das Gefühl, in mein Land zurückgekehrt zu sein", sagt Kostja. In Kiew kam er zunächst in eine Unterkunft der NGO "Save Ukraine", die sich um zurückgeholte deportierte Kinder kümmert. Kostja verbrachte dann mehrere Monate mit seiner Familie. Doch weder sein kranker Vater noch seine Schwestern konnten sich um ihn kümmern, wofür er Verständnis hat. Daher kehrte Kostja in die Unterkunft von "Save Ukraine" zurück. Vor kurzem wurde für ihn im ukrainischen Poltawa eine neue Pflegefamilie gefunden, in der er sich bereits eingelebt hat. Trotz seines schwierigen Weges und der Tatsache, dass er nicht mit seiner Familie zusammenleben kann, bereut Kostja nicht, in die Ukraine zurückgekehrt zu sein.

Schwierige Rückkehr

Laut ukrainischen Angaben konnten bislang fast 390 deportierte Kinder zurückgeholt werden. An dem Verfahren, das geheim gehalten wird, sind mehrere Parteien beteiligt. Nicht alle der Kinder waren in russischen Familien untergebracht. Öffentlich bekannt ist nur, dass mindestens drei aus Familien herausgeholt wurden. Dies sei besonders schwierig, sagen Beamte und Aktivisten, die an dem Verfahren beteiligt sind. Doch am schwierigsten sei es, Vollwaisen zurückzuholen, da sie keine Verwandten hätten, die sie abholen könnten.

Der russische Vormund Wladimir, der Maksym aus Donezk aufgenommen hat, verurteilt, dass ukrainische Kinder, die in ihrer Heimat Familie hätten, nach Russland gebracht werden. Eine Rückkehr Maksyms in das von Kiew kontrollierte Staatsgebiet der Ukraine bezeichnet er als "eine sehr schwierige Frage". Er macht sich Sorgen um Maksym Psyche. "Sie wurden dort (im Internat im besetzen Donezk - Red.) einer Gehirnwäsche unterzogen, wonach die Ukraine der Feind ist", so Wladimir.

Mykola Kuleba, Leiter von "Save Ukraine" meint, man sollte alle Kinder aus russischen Familien zurückholen und ihnen die Wahrheit sagen, dass sie per Betrug dorthin gebracht worden seien. Aber Kuleba gibt zu, dass dies eine umstrittene Frage ist.

Ombudsmann Dmytro Lubinez betont in diesem Zusammenhang: "Für uns als Staat bleibt es dabei, dass es sich um ukrainische Kinder handelt." Die Entscheidung, wo die Kinder leben sollen, muss Lubinez zufolge von der Familie oder, falls diese nicht vorhanden ist, von den ukrainischen Behörden getroffen werden. "Wenn eine Person 18 Jahre alt ist, reicht es, wenn wir hören, dass sie zufrieden ist, sich als Bürger Russlands betrachtet und dort bleiben will. Aber ich weiß, dass viele Volljährige sagen werden, dass sie in die Ukraine zurückkehren wollen", so Lubinez.

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk