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PolitikIsrael

Nahost 2023: Terror und Krieg statt Normalisierung

31. Dezember 2023

Der Krieg zwischen Israel und der Hamas hat die politische Landschaft in Nahost 2023 stark verändert. Die weitere israelisch-arabische Annäherung liegt erst einmal auf Eis. Aber wird das so bleiben?

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Israelische Truppen im Gazastreifen, 4.12.2023
Israelische Truppen im Gazastreifen, Anfang Dezember 2023Bild: IDF/Xinhua/picture alliance

In den vergangenen Jahren schienen die Palästinenser in der arabischen Welt beinahe vergessen - jedenfalls bei vielen der dortigen Staatsführer. Ihre Anliegen - allen voran die Gründung eines eigenen Staats - zählten im Kalkül vieler Herrscher nur noch wenig. Nach Jahrzehnten des Konflikts sah es aus, als hätte sich die vielbekundete Solidarität mit den Menschen im Gazastreifen und Westjordanlandland erschöpft. Die Prioritäten - zumindest bei vielen Partnerländern des Westens in der Region - schienen sich nach und nach verschoben zu haben: weg von den Palästinensern - und bemerkenswerterweise hin zu Israel.

So unterschiedliche Staaten wie die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), Bahrain, Marokko und der Sudan schlossen 2020 Normalisierungsvereinbarungen, die so genannten Abraham-Abkommen, mit Israel. Diese, so damals Israels Premier Benjamin Netanjahu, hätten ein "Zeitalter des Friedens" eingeläutet. Auch aufgrund weiterer hoffnungsvoller Gespräche mit Saudi-Arabien schien der jüdische Staat auf bestem Weg, die Konflikte mit seinen Nachbarn endgültig zu beenden. 

Israels Premier Netanjahu bei einem Truppenbesuch im Gazastreifen
Israels Premier Netanjahu bei einem Truppenbesuch im GazastreifenBild: Avi Ohayon/GPO/Handout via REUTERS

Doch dann kam der 7. Oktober 2023: Die militant-islamistische Hamas startete einen in diesem Ausmaß nie dagewesenen Terrorangriff auf israelisches Territorium. Dabei tötete die Hamas, die in Deutschland, der EU, den USA und mehreren anderen Staaten als Terrororganisation eingestuft wird, rund 1200 israelische Bürger und nahm rund 240 Menschen als Geiseln, die sie in den Gazastreifen entführte. Nur ein Teil davon kam im November wieder frei, im Austausch gegen palästinensische Häftlinge aus israelischen Gefängnissen.  

Premier Netanjahu rief schon kurz nach dem Hamas-Angriff den Kriegszustand aus und mobilisierte rund 300.000 Reservisten. Kurz darauf begann Israel seine Luftangriffe auf den Gazastreifen, Ende Oktober startete die Bodenoffensive. Israel wirft der Hamas vor, ihre militärische Infrastruktur vorzugsweise in von Zivilisten bewohnten Gegenden zu installieren und die Bewohner des Gazastreifens als menschliche Schutzschilde zu missbrauchen.

Im Rahmen der Bodenoffensive kamen neben Hamas-Terroristen auch zahlreiche Zivilisten ums Leben. So bezifferte das von der Hamas kontrollierte Gesundheitsministerium die Anzahl der Getöteten im Gazastreifen auf mehr als 21.000. Solche Angaben lassen sich allerdings nicht unabhängig überprüfen.

Schon kurz nach Kriegsbeginn zeigten sich immer mehr Staaten der arabischen Welt mit den Bürgern des Gaza-Streifens solidarisch. In aller Schärfte äußerte sich etwa der jordanische Außenminister Aiman Safadi: Der Krieg, den Israel im Gazastreifen gegen die Hamas führe, sei eine "eklatante Aggression" gegen palästinensische Zivilisten und drohe den gesamten Nahen Osten zu destabilisieren, so Safadi. Indem es die Lieferung von Lebensmitteln, Medikamenten und Treibstoff unterbinde, begehe Israel "Kriegsverbrechen", sagte der jordanische Außenminister Mitte November.

Palästinenser zurück auf der Agenda

Eines hat der Hamas-Terror offenbar bewirkt: Die Palästinenser und ihre Anliegen sind seit 2023 zurück auf der regionalen und internationalen Agenda. Damit steht auch wieder stärker die Frage im Raum, wie es langfristig weitergehen wird im Umgang mit dem seit über 70 Jahren ungelösten Nahost-Konflikt.

Die Frage betrifft unmittelbar auch viele arabische Staaten. Getrieben seien die arabischen Staaten dabei vielfach von eigenen Stabilitätssorgen, meint André Bank, Nahostexperte am German Institute for Global and Area Studies (GIGA) in Hamburg.

Jordanien und Ägypten etwa hätten als direkte Nachbarn Israels mit diesem bereits vor Jahrzehnten einen Friedensvertrag geschlossen. Nun fürchteten die Regierungen beider Staaten vor allem, dass es durch eine weitere Eskalation in Gaza oder auch im Westjordanland zu einer größeren Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung komme - und in deren Folge dann auch zu Unruhen im eigenen Land. André Bank: "Das führt dann dazu, dass in Ägypten zwar demonstriert werden darf, allerdings nicht auf dem Tahrir-Platz in Kairo, dem Zentrum der Demokratiebewegung des Jahres 2011. Denn das Regime von Präsident (Abdel Fattah) al-Sisi sorgt sich, dass diese Proteste sich in Solidaritätskundgebungen im Sinne des arabischen Frühlings verwandeln könnten."

Auch in Jordanien dürfen zwar pro-palästinensische Proteste in Teilen der Hauptstadt Amman stattfinden - nicht aber an der Grenze zum Westjordanland. André Bank: "Dort, so die Sorge, könnten Proteste leicht außer Kontrolle geraten."

Die Rolle der Golfstaaten

In den Golfstaaten hingegen ist es bislang kaum zu Protestkundgebungen gekommen. Dieser Umstand passe zur bisherigen Positionierung zumindest eines großen Teils der Golfstaaten, sagt André Bank. Die VAE hätten sich zumindest anfänglich sogar eher auf Seiten Israels positioniert, so der Nahost-Experte. Auch das der Hamas verbundene Emirat Katar - in der Hauptstadt Doha lebt ein wichtiger Teil der Hamas-Führung - hat Israel zwar mehrfach öffentlich kritisiert. In einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) Ende November beschrieb Katars Regierungschef, Muhammad Bin Abdulrahman Al-Thani, das Verhältnis seines Landes zu Israel jedoch als pragmatisch: "Wir in Katar haben wiederholt gesagt, dass das Problem die Besatzung und die Palästina-Frage ist, es gibt kein anderes direktes Problem als solches zwischen Israel und Katar." Werde nicht an einer Lösung dieser Fragen gearbeitet, werde die Region ewig in einem Kreislauf der Gewalt gefangen sein, so Al-Thani. "Andernfalls: Warum sollten wir ein Problem mit Israel haben, wenn dies ernsthaft angegangen wird?" 

Tunnel der Hamas im Gazastreifen
Israelischer Soldat in einem Tunnel der Hamas im Gazastreifen. Das Foto stammt von Reuters, deren Fotograf die israelische Armee bei einem Einsatz begleiten konnte. Bild: Ronen Zvulun/REUTERS

Gemeinsame Interessen der Arabischen Welt und Israels

Noch ist unklar, wie der Krieg weitergehen und wann und wie er enden wird. Droht er sich noch auf weitere Länder oder Gebiete ausweiten? Wie viele Menschenleben werden am Ende zu beklagen sein? Davon dürfte vieles abhängen - gerade auch was das Verhältnis der arabischen Länder zu Israel betrifft. 

Bisher glauben Experten jedoch eher nicht, dass die Annäherung zwischen Israel und der arabischen Welt durch den Nahost-Krieg und die zahlreichen Todesopfer im Gazastreifen dauerhaft in einer Sackgasse stecken bleiben wird. Viele meinen, dass seitens der arabischen Herrscher bisher vor allem verbal aufgerüstet wurde, um der weit verbreiteten anti-israelischen Stimmung in vielen arabischen Bevölkerungen Rechnung zu tragen. Der Nahost-Experte Johannes Becke von der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg nennt ein Beispiel: "Ich habe den Eindruck, dass auf dem Gipfel der arabisch-muslimischen Staaten Anfang November in Riad zwar die zu erwartende scharfe Rhetorik geäußert wurde - dass es dann aber auch dabei geblieben ist." 

Das liege vor allem daran, dass sich an den wirtschaftlichen und geostrategischen Interessen mehrerer arabischen Staaten in Bezug auf Israel trotz Hamas-Terror und Gaza-Krieg kaum etwas geändert haben dürfte. Israel gilt grundsätzlich als potenziell hoch attraktiver Partner in Bereichen wie Wirtschaft und Technologie. Eine Annäherung an Israel bringt außerdem Vorteile im Verhältnis zu den USA und weiteren westlichen Staaten.

Zudem ist Israel auch geostrategisch ein attraktiver Partner für alle Länder, die - wie insbesondere mehrere Golfstaaten - weiterhin den Einfluss des Iran in der Region begrenzt sehen möchten. Der Iran bedroht Israel direkt und erkennt dessen Existenz nicht an. Deshalb ist die Eindämmung des Iran eines der wichtigsten sicherheitspolitischen Anliegen Israels.

Wenn Saudi-Arabien Israel vor Raketen bewahrt

Zwar habe Saudi-Arabien zum Beispiel im zu Ende gehenden Jahr unter Vermittlung Chinas auch seine Beziehungen zum Iran verbessert, so Johannes Becke. Zugleich scheint die bis zum Hamas-Überfall rasant anmutende Annäherung zwischen Saudi-Arabien und Israel durch den Krieg in Nahost vorerst gestoppt.

Doch als die vom Iran unterstützten Huthi-Rebellen im Jemen Anfang Dezember Raketen Richtung Israel abfeuerten, um die Hamas in ihren Kampf gegen Israel zu unterstützen, sei Saudi-Arabien aktiv geworden und habe die auf Israel gerichteten Geschosse abgefangen. "Diese Raketen wurden bis vor kurzem noch nach Saudi-Arabien selbst gefeuert und könnten eines Tages auch wieder auf das Königreich gerichtet werden", argumentiert Becke. "Insofern haben sich die geopolitischen Argumente für eine arabisch-israelische Annäherung durch den Überfall der Hamas nicht geändert. Im Gegenteil: Er könnte sie sogar gestärkt haben."

Blick auf zerstörte Häuser im Gazastreifen, 4.1.2023
Zerstörungen im Gazastreifen Bild: Hatem Ali/AP Photo/picture alliance

Erhebliches Mobilisierungspotential des Nahostkriegs

Allerdings zeigen die anhaltenden pro-palästinensischen Kundgebungen in der arabischen und islamischen Welt, welches Mobilisierungspotential dieser Krieg hat. Gerade darum dürfte ein erheblicher Teil der arabischen Regierungen Interesse daran haben, ihn möglichst schnell und dauerhaft zu beenden, bevor die Proteste die eigene Stabilität bedrohen.

Die Annäherung an Israel wird vor diesem Hintergrund möglicherweise erst dann wieder aufgenommen werden können, wenn die Waffen schweigen und auch für die Palästinenser ein Nutzen herausspringt, etwa in Form einer Neuauflage der Zwei-Staaten-Lösung. Katars Regierungschef Al-Thani hat dafür im Interview mit der FAZ schon den Rahmen abgesteckt: "Die Palästina-Frage kann nicht länger unter den Teppich gekehrt werden", betonte er dort.

Dieser Text wurde am 26. Dezember 2023 aktualisiert.

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika