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PolitikNamibia

Namibia: "Deutschland lernt nicht aus der Geschichte"

Jasko Rust Windhuk | Martina Schwikowski
22. Januar 2024

Namibia kritisiert Deutschlands Haltung zu Israel scharf, Berlin weist die Vorwürfe zurück. Namibias Präsident Geingob punktet im Wahljahr mit der Behauptung, Deutschland unterstütze einen Völkermord in Gaza.

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Namibia Präsident Hage Geingob
Namibias Präsident Hage Geingob kritisiert die deutsche Regierung heftig für ihre Position zum Krieg in GazaBild: picture alliance / ASSOCIATED PRESS

Namibias Kritik an der deutschen Haltung zu Israels Vorgehen in Gaza ist deutlich, der Ton scharf: Präsident Hage Geingob bezeichnet Deutschland als "unfähig, Lehren aus seiner grausamen Geschichte zu ziehen", und verweist auf den durch deutsche Schutztruppen in Namibia begangenen Völkermord an den Herero und Nama zwischen 1904 und 1908.

Für diesen - laut Historikern - ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts habe die deutsche Regierung bis heute nicht gesühnt, sagt Geingob jetzt auch mit Blick auf die deutsche Unterstützung Israels im Gaza-Krieg.

Namibia, Windhuk I Denkmal zur Erinnerung an den Völkermord von Herero und Nama: Fries mit zwei bewaffneten Männern vor drei gehenkten Menschen an einem Baum
In Windhuk erinnert ein Denkmal an den Völkermord von Herero und Nama zur Zeit der deutschen KolonialherrschaftBild: Jürgen Bätz/dpa/picture alliance

Seine Begründung: "Deutschland kann kein moralisches Bekenntnis zur Völkermordkonvention der Vereinten Nationen abgeben und gleichzeitig das Äquivalent eines Holocaust und Völkermords in Gaza unterstützen."

Den Haag: Deutschland mischt sich ein

Geingob äußerte sich, nachdem das benachbarte Südafrika vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag angehört worden war. Das Land beschuldigt Israel, einen Völkermord an den Palästinensern zu begehen. In der Klageschrift führt Südafrika unter anderem auf, dass Israel der Bevölkerung im Gazastreifen lebenswichtige Nahrungsmittel, Wasser, Medikamente, Treibstoff, Unterkünfte und andere humanitäre Hilfe verwehre.

In seiner Gegendarstellung am Freitag (12.01.) - genau 120 Jahre nach dem Beginn des deutschen Völkermords in Namibia - wies Israel die Vorwürfe von sich und sprach von einer "verzerrten Wahrnehmung" Südafrikas. Auch Israels Premierminister Benjamin Netanjahu äußerte sich und nahm Bezug auf den großangelegten Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober, bei dem mehr als 1200 Menschen brutal ermordet und mehr als 240 entführt worden waren: "Eine Terrororganisation hat das schlimmste Verbrechen gegen das jüdische Volk seit dem Holocaust begangen, und jetzt kommt jemand daher, um dieses Verbrechen im Namen des Holocaust zu verteidigen."

Deutschland bot an, in dem von Südafrika angestrengten Verfahren für Israel zu intervenieren. Das ging Namibias Präsident Geingob zu weit. Er forderte Deutschland auf, "seine Entscheidung, als Drittpartei zur Verteidigung einzugreifen, zu überdenken".

Die Bundesregierung wies die von Geingob formulierten Vorwürfe entschieden zurück. "Wir haben natürlich die Erklärung des namibischen Staatspräsidenten zur Kenntnis genommen", sagte Christian Wagner, Sprecher von Außenministerin Annalena Baerbock (Bündnis 90/ die Grünen). "Wir benennen die Verbrechen an den Herero und Nama, Damara und San als das, was sie sind: als Völkermord. Wir weisen die historische Gleichstellung des Holocaust mit den Vorgängen in Gaza zurück."

Gaza - zerstörte Gebäude
Israel bombardiert den Gazastreifen - nach Angriffen der Terrororganisation Hamas am 7. Oktober 2023Bild: DW

Die Bundestagsabgeordnete Annette Widmann-Mauz von der konservativen Oppositionspartei CDU, bis 2021 Bundesbeauftragte für Migration, Flüchtlinge und Integration unter Kanzlerin Angela Merkel, pflichtet bei. "Gerade weil Deutschland nach heutigem Verständnis einen Genozid an Herero und Nama begangen hat und uns unsere Geschichte zu besonderer Verantwortung verpflichtet, ist es konsequent, dass sich Deutschland an die Seite Israels stellt", schreibt Widmann-Mauz auf Anfrage der DW.

Deutschland hatte die in Namibia begangenen Kolonialverbrechen 2021 nach langem Zögern in der historischen Bewertung als Genozid anerkannt - eine juristische Anerkennung gibt es jedoch nicht.

Deutsche Oppositionelle Dagdelen: "Neokoloniale Arroganz"

Aus Sicht der deutschen Oppositionspolitikerin Sevim Dagdelen, die seit 2005 im Bundestag sitzt, ist Namibia die massive Kritik an den "doppelten Standards" der deutschen Regierungskoalition nicht zu verdenken. "Die pauschale, ja geradezu beleidigende Zurückweisung der sachlichen Klageschrift Südafrikas durch die Bundesregierung zeugt von einer westlichen Ignoranz und fast neokolonialer Arroganz", sagt sie im DW-Interview.

Über die vorgetragenen Vorwürfe entscheide immer noch der Internationale Gerichtshof - und nicht das Auswärtige Amt oder das Kanzleramt, sagt Dagdelen, die dem neu gegründeten "Bündnis Sahra Wagenknecht" angehört. Die Partei hatte sich nach internen Verwerfungen von "Die Linke" abgespalten, wodurch deren Fraktion im Bundestag zerfiel.

Die Koalition aus SPD, Grünen und FDP habe offensichtlich längst jedes Gespür für die Entwicklung und auch den Grad der Emanzipation in den Ländern Afrikas und des globalen Südens verloren. Durch eine "falsche Parteinahme" für die "rücksichtslose Kriegsführung" Israels verspiele die Regierung ihre Glaubwürdigkeit und isoliere Deutschland in der Welt.

Gazastreifen Rafah 2023 | Verkauf von Planen für Flüchtlingszelte, Verkäufer an einer Rolle Folie, Passanten
In Rafah im Gazastreifen kaufen Menschen Plastikplanen, um Zelte für geflüchtete Palästinenser zu bauenBild: Bashar Taleb/Zuma/picture alliance

Mittlerweile sind nach Angaben des von der militant-islamistischen Hamas geführten Gesundheitsministeriums in Gaza rund 25.000 Menschen in Gaza getötet worden. Die Hamas wird von der EU, den USA und anderen als Terrororganisation eingestuft. Unabhängig überprüfen lassen sich diese Zahlen nicht. Die Vereinten Nationen schätzen sie jedoch als grundsätzlich korrekt ein. Dagdelen appelliert an die Bundesregierung, den global immer lauter werdenden Ruf nach einem sofortigen Waffenstillstand zu unterstützen.

Namibia an der Seite der Palästinenser

Zurück nach Namibia: Mit seinen scharfen Worten überraschte Präsident Geingob zwar viele, aber der Kern seiner Aussage ist für die namibische Politikanalystin Rakkel Andreas nicht neu: "Wann immer es Elemente der Unterdrückung, der Kolonialisierung oder imperialistische Tendenzen gibt, neigt die Regierung dazu, dies zu benennen", sagt sie im DW-Gespräch. Die aktuelle israelische Regierung und ihre Vorgänger haben Vorwürfe, Israel sei ein "koloniales Unterfangen", hingegen wiederholt zurückgewiesen und als antisemitisch bezeichnet.

Die namibische Regierung fordert bereits seit Jahren immer wieder die Selbstbestimmung der Palästinenser, zuletzt auf der 78. UN-Vollversammlung im September 2023. Damit ist sie auf dem afrikanischen Kontinent nicht allein. "Während wir lange Zeit den Westen als Stimme der moralischen Überzeugung gesehen haben, sieht es nun so aus, als würden sich die afrikanischen Länder der Situation gewachsen zeigen", sagt Andreas.

Alles nur Wahlkampf?

Die Politikexpertin gibt jedoch auch zu bedenken, dass sich Namibia in einem Wahljahr befindet. Im November 2024 soll sowohl ein neues Parlament als auch ein neues Staatsoberhaupt bestimmt werden. "Dieses Statement hat genau das erreicht, was es bezwecken sollte. Es hat dem Präsidenten viel öffentliche Unterstützung eingebracht", erklärt Andreas gegenüber der DW.

Berlin: Mehrere Vertreter und Vertreterinnen von Nama und Herero in Anzug, Uniform oder folkloristischer Kleidung
Vertreter der Herero und Nama bei einer Zeremonie in Berlin zu 2018 zu Ehren der Opfer des GenozidsBild: Abdulhamid Hosbas/AA/picture alliance

Gleichzeitig spricht sie von einem strategischen Schachzug, weil die kritischen Worte direkt vom Präsidialamt und nicht vom Außenministerium veröffentlicht wurden. Somit werde die Behörde, die sich in direkten Verhandlungen mit Deutschland befinde, indirekt von den Aussagen abgegrenzt.

Für Herero und Nama vor Gericht ziehen

Im Land könnte Geingob damit jedoch unbewusst bestehende Spannungen verstärkt haben, gibt Andreas zu bedenken und verweist auf die Kritik verschiedener vom deutschen Völkermord betroffener Gemeinschaften.

Zwar gaben die traditionellen Behörden der Nama und Herero (NTLA und OTA) sofort eine Erklärung ab, in der sie die Aussagen des Präsidenten grundsätzlich willkommen heißen.

Andererseits spricht Nandi Mazeingo, Vorsitzender der Ovaherero Genocide Foundation, im DW-Interview von Heuchelei und wendet sich dabei direkt an die Regierung in Windhuk: "Ihr verurteilt Deutschland vehement für die Unterstützung Israels. Aber gleichzeitig könnt ihr Deutschland nicht für den Genozid verurteilen, den es hier verübt hat."

Stattdessen stehe Namibia weiter hinter der gemeinsamen Erklärung mit Deutschland, die einen Völkermord in Namibia "abstreite". Stein des Anstoßes ist für Mazeingo die deutsche Formulierung, wonach es sich um einen "Völkermord nach heutigem Verständnis" handle. Er bezeichnet das gegenüber der DW als sprachliche Verschleierung der Tatsachen.

Mazeingo, der auch die OTA vertritt, fordert daher Unterstützung von Präsident Hage Geingob, um Deutschland vor einem internationalen Gremium zu einem umfassenden Völkermords-Bekenntnis zu bringen: "Was Südafrika für Palästina getan hat, muss Namibia auch für uns Herero und Nama tun. Namibia muss für uns vor den IGH ziehen."