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KonflikteUkraine

NATO-Gipfel: Wann wird die Ukraine Mitglied?

10. Juli 2023

Die Allianz will der Ukraine erneut zusichern, dass sie Mitglied der NATO werden kann. Irgendwann. Oder wird es beim Gipfel in Vilnius diesmal konkreter? Bernd Riegert berichtet.

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Flaggen NATO und Ukraine
Die Ukraine möchte in die NATO - vor Kriegsende wird kaum möglich seinBild: Petras Malukas/AFP/Getty Images

So nahe waren die Regierungschefs und Staatsoberhäupter der NATO-Staaten dem Gegner bei ihren regelmäßigen Gipfeltreffen in der 74-jährigen Geschichte des Militärbündnisses nur selten. Vilnius, die Hauptstadt Litauens, liegt nur 200 Kilometer von der Grenze des russischen Aggressors in der Exklave Kaliningrad entfernt. Bis zur Grenze der von Russland angegriffenen Ukraine sind es 360 Kilometer. Das mit Russland verbündete Belarus, wo die Ankunft der russischen Wagner-Söldner erwartet wird, ist nur 35 Kilometer von Vilnius entfernt. 2006 traf sich die NATO im benachbarten Lettland, in Riga, aber damals galt Russland noch als Partner, nicht als Bedrohung. 

Um das größte Treffen von Staats- und Regierungschefs und -chefinnen in der Geschichte Litauens zu schützen, bieten die litauische Armee und NATO-Verbündete rund 4000 Soldatinnen und Soldaten auf. Rechnet man Polizei und Geheimdienste hinzu, werden rund 12.000 Personen für Sicherheit an den zwei Gipfeltagen am Dienstag und Mittwoch sorgen. Man müsse mit "Provokationen" der Russen rechnen, heißt es von litauischen Diplomaten. Auch die deutsche Bundeswehr mischt mit. Die Luftwaffe hat Patriot-Systeme vorübergehend rund um Vilnius stationiert, um potentielle Raketenangriffe abzuwehren. Die Patriots sind seit Donnerstag einsatzbereit, wie die Luftwaffe per Tweet mitteilte. Auch nicht näher bezeichnete Spezialkräfte der Bundeswehr seien im Einsatz.

Was will Gastgeber Litauen erreichen?

Das Messegelände in Vilnius wurde extra für das Gipfeltreffen der Militärallianz renoviert und erweitert. Insgesamt gibt Litauen 38 Millionen Euro für das Spitzentreffen aus. Gut angelegtes Geld, findet der Präsident Litauens, Gitanas Nauseda. Mit einem wohl organisierten Gipfel zeige man, dass Litauen "erwachsen" genug sei, um dieses historische Treffen zu ermöglichen, sagte er beim Besuch der Messehallen im NATO-Dekor vor einigen Tagen. Jetzt gehe es nicht mehr um die Infrastruktur, sondern um die Inhalte und Beschlüsse. Gastgeber Nauseda, ein profilierter Unterstützer der Ukraine und ihres Beitrittswunsches zur NATO, möchte, dass die Allianz vor allem Einigkeit demonstriert.

Porträt des Präsidenten Litauens, Gitanas Nauseda
Litauens Präsident Gitanas Nauseda: Litauen will einen historischen NATO-Gipfel ermöglichenBild: Nina Haase/DW

Der litauische Präsident meint, man müsse die derzeitige Schwäche des russischen Machthabers Wladimir Putin nach dem abgebrochenen Putschversuch der Wagner-Söldner nutzen: "Einige meiner Kollegen sagen, dass ein starker Putin weniger gefährlich ist als ein schwacher Putin. Ich stimme dem nicht zu. Wir müssen entschieden vorangehen, weil wir an einem Scheideweg der Geschichte stehen. Wenn wir jetzt nicht entschieden und vereint sind, wird es morgen zu spät sein."

Infografik Karte Litauen mit Vilnius und Kaunas DE

Was erwartet die Ukraine von der NATO?

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj formulierte bei einer Reise durch mehrere NATO-Staaten vor dem Gipfeltreffen und bei vielen Gelegenheiten zuvor sein Ziel: "Die Ukraine ist bereit für die NATO-Mitgliedschaft. Wir warten darauf, wann die NATO bereit für die Ukraine ist."

Der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj (l) steht an neben dem Präsidenten Litauens, Gitanas Nauseda (r), beide an einem Stehpult während einer Pressekonferenz
Vorbereitung des Gipfels Ende Juni in Kiew: Litauens Präsident Nauseda (r) beim ukrainischen Kollegen Selenskyj (l)Bild: Daria Nynko/DW

Er habe verstanden, dass die Ukraine während des laufenden Krieges nicht aufgenommen werden solle, aber zumindest brauche es jetzt Sicherheitsgarantien des Westens. "Sicherheitsgarantien sind nicht nur für die Ukraine, sondern auch für unsere Nachbarn wichtig, wegen der russischen Aggression in der Ukraine und der möglichen Aggression gegen andere Teile Europas." Die Erwartungen der Ukraine sind hoch, aber Bundeskanzler Olaf Scholz machte - wie andere Regierungschefs schon lange vor dem Treffen in Vilnius - die Haltung der großen NATO-Staaten klar: "Es kann während des Krieges gar keinen Beitritt zu unserer Verteidigungsallianz geben. Eine der Voraussetzungen für die Mitgliedschaft ist, dass es keine ungeklärten Grenzkonflikte gibt."

US-Präsident Joe Biden machte in einem CNN-Interview vor dem Gipfel klar, dass die Ukraine noch länger warten müsse. Erst nach einem Ende des russischen Angriffskrieges könne man einen Beitritt überhaupt erwägen. Jetzt müsse der Ukraine erst einmal geholfen werden, den Krieg zu gewinnen. Nach dem Krieg seien Sicherheitsgarantien möglich, wie sie derzeit etwa Israel erhalte, deutete der amerikanische Präsident an. 

Ist ein schneller NATO-Beitritt besser?

Wie Sicherheitsgarantien der großen NATO-Staaten USA, Großbritannien, Frankreich und Deutschland für die Ukraine unmittelbar nach dem erhofften Kriegsende aussehen könnten, ist unklar und soll in Vilnius zumindest diskutiert werden. Die Expertin für Sicherheitspolitik bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, Claudia Major, empfindet die Haltung des Bundeskanzlers als zu zögerlich. Sie empfiehlt, bereits jetzt ukrainische Landesteile, die sicher von der Regierung in Kiew kontrolliert werden, in die NATO aufzunehmen. So werde die Ukraine zu einer echten Verbündeten, die dann auch verteidigt werden müsse.

"Das ist kein schneller und einfacher Prozess. Ein NATO-Beitritt ist mit vielen Risiken verbunden. Aber wenn wir jetzt sagen: Ein Beitritt erst nach dem Krieg, dann heißt das de facto, dass Russland einen Anreiz hat, diesen Krieg endlos weiterzuführen, und damit de facto ein Veto bei der freien Bündniswahl hat", sagte Claudia Major im ARD-Fernsehen.

Porträtbild des NATO-Generalsekretärs Jens Stoltenberg
Jens Stoltenberg: Gipfel-Teilnehmer sollen mehr militärische Unterstützung für die Ukraine ankündigenBild: François Walschaerts/AFP

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, dessen Amtszeit kürzlich um ein weiteres Jahr verlängert wurde, wiederholt unermüdlich die Formel, die NATO-Staaten würden die Ukraine solange mit Waffen, Munition und Ausbildung unterstützen, wie es nötig sei, um den Angreifer Russland zurückzuschlagen. "Auf dem Gipfel erwarte ich neue Ankündigungen für militärische Unterstützung der Ukraine. Wir werden auch über ein mehrere Jahre laufendes Programm zur Vorbereitung der Mitgliedschaft in der NATO abstimmen. Wir müssen erreichen, dass die Ukraine als souveräner, unabhängiger Staat in Europa Bestand hat", sagte Stoltenberg vor dem Gipfel im NATO-Hauptquartier in Brüssel.

Worüber wird gestritten?

Aber über Einzelheiten der Ukraine-Politik und auch über neue Verteidigungspläne zur Abschreckung und Abwehr möglicher russischer Angriffe auf NATO-Gebiet herrschte unter den 31 Delegationen der Mitgliedsländer bis unmittelbar vor dem Gipfel noch keine Einigkeit. Der NATO-Oberbefehlshaber in Europa legte einen fast 2000 Seiten dicken Verteidigungsplan für den Fall einer russischen Invasion vor. Es ist der erste derartige Plan seit Ende des Kalten Krieges in den Achtziger Jahren.

Banner an Hochhaus in Vilnius: "Putin, the Hague is waiting for you"
Hochhaus in Vilnius, der Gipfelstadt: Litauen begrüßt den Haftbefehl gegen den mutmaßlichen Kriegsverbrecher Putin Bild: Bart Maat/ANP/picture alliance/dpa

Vor allem die Türkei mauert beim finalen Text noch, nicht aus prinzipiellen Bedenken, sondern um noch einige eigene Punkte durchzusetzen, hieß es aus Diplomatenkreisen. Und auch das eher Russland-freundliche Ungarn ist bei der Unterstützung der Ukraine wenig engagiert. Frankreich setzt sich neuerdings für eine schnelle Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO ein. Deutschland und andere westliche Staaten sind zögerlicher, während die baltischen Staaten mehr Waffen, mehr Munition, eigentlich mehr von allem für die Ukraine fordern.

"Es ist ja ganz nett, zum Gipfel zu gehen und zu sagen: Oh, wir ziehen alle an einem Strang", sagte die ehemalige hochrangige NATO-Strategin Stefanie Babst in einem Interview mit dem litauischen Rundfunk (LRT). "Es mir tut mir leid, aber das ist Bullshit. Jeder kann sehen, dass es da verschiedene Ansätze gibt. Und wenn wir das sehen können, kann das Präsident Putin auch. Und die Chinesen und Iraner können das auch."

Schwedens Ministerpräsident Ulf Kristersson sitzt neben US-Präsident Joe Biden (r) vor einem Kamin
Hoffnung auf Hilfe gegen das Veto der Türken: Schwedens Premier Kristersson (l) bei US-Präsident Biden in Washington Bild: Evan Vucci/AP/dpa/picture alliance/dpa

Warum muss Schweden noch warten?

Entscheidend wird sein, wie sich die NATO-Führungsmacht USA bei den strittigen Themen positioniert. US-Präsident Joe Biden hat sich gegen eine sofortige Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO ausgesprochen, will aber mehr Militärhilfe zusagen. Biden will außerdem auf den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan einwirken. Der soll endlich seinen Widerstand gegen den seit einem Jahr zugesagten Beitritt Schwedens in die NATO aufgeben.

Erdogan trifft sich diesen Montag in Vilnius vor dem eigentlichen Gipfel mit dem schwedischen Ministerpräsidenten Ulf Kristersson, der wiederum vergangene Woche im Weißen Haus in Washington um Unterstützung gebeten hatte. Die Türkei wirft Schweden immer noch vor, nicht genug gegen mutmaßliche kurdische Terroristen zu unternehmen. Auch das ungarische Parlament hat dem schwedischen Beitritt bisher nicht zugestimmt. Eine Lösung des Problems sei aber greifbar, versicherte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg.

Porträtbild von Olha Stefanishyna, stellvertretende Regierungschefin der Ukraine
Unermüdlicher Einsatz bei NATO-Politikern: Olha Stefanishyna, stellvertretende Regierungschefin der UkraineBild: Attila Husejnow/SOPA/ZUMA/picture alliance

Wie geht es weiter?

Die stellvertretende Ministerpräsidentin der Ukraine, Olha Stefanishyna, war in den vergangenen Monaten unentwegt in Europa unterwegs, um für den Beitritt ihrer vom Krieg gebeutelten Heimat zur EU und zur NATO zu werben. Die Aussichten auf eine klare Zusage beim Gipfel in Vilnius schätzte sie mit Blick auf die Reibereien innerhalb des Bündnisses im Interview mit der DW so ein: "Die NATO ist eine sehr spezielle Organisation. Wissen Sie, eine Antwort von der NATO zu erhalten, unterscheidet sich davon, wie andere politische Freunde rund um den Globus agieren." Das soll wohl heißen, es bleibt vage.

Porträt eines Mannes mit blauem Sakko und roter Krawatte
Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union