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Versäumnisse des deutschen Staates

Ben Knight/ nem16. Juli 2015

Mehmet Daimagüler war Anwalt im Prozess gegen Ex-SS-Mann Oskar Gröning und vertritt Nebenkläger im NSU-Prozess in München. Mit der DW sprach er über die blinden Flecken Deutschlands, wenn es um Nazis geht.

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Mehmet Daimagüler, Anwalt und Schriftsteller - Foto: Bernhard Ludewig
Bild: Bernhard Ludewig

War es richtig, den 94-jährigen Oskar Gröning zu bestrafen für seine Arbeit im Konzentrationslager Auschwitz? Der heute ein Greis ist und vor 70 Jahren ein Rädchen in der Tötungsmaschinerie der Nazis war. Für Mehmet Daimagüler ist die Antwort klar. "Dieser Prozess ist wichtiger denn je", sagt er der Deutschen Welle.

Der Rechtsanwalt aus Berlin vertrat Nebenkläger in dem am Mittwoch beendeten Prozess gegen den ehemaligen Nazi-Offizier Gröning. Der Ex-SS-Mann wurde zu vier Jahren Haft wegen Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen im Jahre 1944 verurteilt.

Auch in dem laufenden Prozess gegen Beate Zschäpe, Mitglied der Neonazi-Bande Nationalsozialistischer Untergrund (NSU), vertritt Daimagüler Nebenkläger. Zschäpe soll zwischen den Jahren 2000 und 2006 an den Morden an zehn Menschen, davon neun mit Migrationshintergrund, beteiligt gewesen sein.

"Keine tragischen Einzelfälle"

Im Prozess gegen Gröning hatte Daimagüler als letzter der Anwälte sein Schlussplädoyer gehalten. Als einziger von vielen Nebenkläger-Anwälten thematisierte er im Gerichtssaal in Lüneburg die Gräueltaten heutiger Neonazis und setzte diese in Zusammenhang mit dem Holocaust. "In München sitzen Anti-Semiten auf der Anklagebank, die durch Worte und Taten ihre Mordfantasien gegenüber Juden und Migranten umsetzen. Gleichzeitig behaupten diese Leute, Auschwitz sei eine Lüge", wandte sich Daimagüler an den Richter.

"Freunde und Bekannte beider Angeklagten tauchen vor Gericht als Zeugen auf und sie verhalten sich ähnlich. Wir dürfen uns nichts vormachen: Das sind keine tragischen Einzelfälle", so Daimagüler. Er fügte hinzu, dass jedes Jahr tausende Menschen in Dresden auf die Straße gingen, um die von ihnen als "Bomben-Holocaust" bezeichnete Bombardierung Dresdens zu verurteilen. "Das ist nichts anderes als ein Herunterspielen des Holocausts", so der Anwalt. In der Nacht vom 13. auf den 14. Februar 1945 bombardierten die Alliierten Dresden zerstörten die Stadt. In der Neonazi-Szene wird behauptet, es seien eine halbe Million Deutsche dabei getötet worden - Historiker gehen von schätzungsweise 25.000 zivilen Opfern aus.

Oskar Gröning mit seinen beiden Anwälten am letzten Prozesstag in Lüneburg (Foto: REUTERS)
Oskar Gröning am letzten Prozesstag in LüneburgBild: Reuters/A. Heimken

Kein Wort über Fehler des deutschen Staates

Nach Prozessende in Lüneburg machte Daimagüler seiner Unzufriedenheit mit dem Schuldspruch des Vorsitzenden Richters Franz Kompisch Luft: "Einige Punkte, von denen der Richter sprach, halte ich für richtig. Aber für meinen Geschmack hätte er ehrlicher sein müssen, wenn es darum geht, welche Fehler die deutsche Justiz in den 40er-, 50er-, und 60er-Jahren gemacht hat", so Daimagüler. "Einen 94-jährigen Mann zu verurteilen, der von seiner Haftstrafe nicht einen Tag im Gefängnis absitzen wird - damit ist es nicht getan. Wir sollten uns im Klaren darüber sein, dass dies hier der letzte Prozess dieser Art gewesen ist. Ich finde, der Richter hätte die Verfehlungen der deutschen Politik und Justiz in der Nachkriegszeit ansprechen müssen."

Im NSU-Prozess vertritt Daimagüler die Angehörigen von Abdurrahim Özüdogru, der 2001 in seiner Schneiderei in Nürnberg erschossen wurde, und von Ismail Yasar, Inhaber eines Dönerimbisses, ebenfalls aus Nürnberg, der 2005 getötet wurde. Wie auch bei den anderen Morden der Neonazi-Gruppe konnte die Polizei beide Morde nicht aufklären, unter anderem weil die Ermittler die Taten nicht als rechtsextremistisch motiviert eingestuft hatten.

NSU-Mitglied Beate Zschäpe im Münchener Gerichtssaal (Foto: REUTERS)
NSU-Mitglied Beate Zschäpe im Münchener GerichtssaalBild: Reuters/M. Rehle

Durch den NSU-Prozess und dem mit den Morden befassten Untersuchungsausschuss kam heraus, dass die Behörden jahrelang die falsche Spur verfolgt haben, weil sie einen Zusammenhang zwischen den Morden und der türkischen Mafia vermuteten. Aus diesem Grund waren auch Angehörige der Getöteten ins Visier der Ermittler geraten.

"Eine Art von Blindheit"

Auch deshalb sieht Rechtsanwalt Daimagüler Gemeinsamkeiten zwischen dem Auschwitz-Prozess und den Verhandlungen gegen den NSU. "Es stellt sich die , des Staates", sagt er. "Im Falle des Münchener Prozesses müssen wir feststellen, dass viele der Opfer noch leben würden, wenn die Behörden richtig gehandelt hätten." Er fügt hinzu: "Bei dem Fall hier in Lüneburg müssen wir uns der Tatsache stellen, dass die deutsche Justiz versäumt hat, die alten Nazis vor Gericht zu stellen. Es gibt immer zwei Seiten: das Verhalten der Angeklagten und das der Autoritäten."

Daimagülers Kollege Cornelius Nestler, der 49 Holocaust-Überlebende in dem Prozess gegen Ex-SS-Mann Gröning vertritt, wollte nicht so weit gehen, die beiden Fälle miteinander zu vergleichen. Doch auch er teilt die Meinung, dass die deutsche Justiz einen historischen Fehler gemacht habe, was die Verfolgung der Nazi-Verbrechen betreffe. Seiner Meinung nach zeige dies, dass der Staat nicht bereit sei, sich seiner Nazi-Vergangenheit zu stellen. "Immernoch sind sich deutsche Autoritäten nicht darüber bewusst, wie wichtig es ist, anti-semitische Verbrechen zu bekämpfen", sagt Nestler. "Das ist eine Art blinder Fleck."