Nazis als schlechte Agenten
29. Oktober 2014Klaus Barbie war einer der berüchtigtsten Nazis. Als "Schlächter von Lyon" ging der Gestapo-Mann in die Geschichte ein. Dennoch vergingen Jahrzehnte, bis er sich für seine Taten verantworten musste. Barbie war zwar ein Kriegsverbrecher - dennoch blieb er nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst unbehelligt. Denn er hatte einen mächtigen Verbündeten: die Spionageabwehr der US-Armee. Erst als Barbie in Bolivien enttarnt, in den 1980er Jahren an Frankreich ausgeliefert und dort verurteilt wurde, kam ans Licht der Öffentlichkeit, dass er und andere hochrangige Nazis nach Ende des Krieges für US-Geheimdienste tätig waren.
Konservative Schätzung
Jetzt haben US-Historiker die Kapitel der Geschichte umfassend analysiert und dabei auch die Qualität der durch die "Nazi-Spione" gelieferten Informationen untersucht. Nach Auswertung freigegebener US-Geheimdienstakten beziffern die Forscher die Zahl der Nazis, die nach dem Krieg für US-Dienste arbeiteten, auf mindestens 1000. "Das ist eine konservative Schätzung", sagt Norman J. W. Goda, einer der beteiligten Historiker. "Die Schätzung basiert auf langwieriger Analyse der Akten. Aber die Wahrheit ist, wir haben keine exakte Zahl", sagt der Professor für Holocaust-Studien an der Universität von Florida.
Denn nicht alle Akten wurden freigegeben, manche gingen möglicherweise verloren. Zudem spiegelt die Zahl 1000 nur die direkten, nicht aber die indirekten Beziehungen wider. Falls die von CIA oder FBI angeworbenen Nazis ihrerseits ehemalige Hitler-Schergen als Spione anheuerten, so sind diese nicht in der Schätzung enthalten - ebenso wenig wie die große Zahl an nicht-deutschen, Nazis in Ungarn, Rumänien oder der Ukraine. Während die genaue Zahl der zu Spionen umfunktionierten Nazis also offenbleibt, gibt es keine Zweifel am geringen Informationsgehalt, den die neuen Agenten ihren amerikanischen Auftraggebern lieferten.
Keine entscheidenden Informationen
"Es gibt keinen Fall, der uns bekannt ist, von dem man sagen, dort wurden entscheidende Informationen geliefert, etwa über die anstehende Berlin-Blockade oder etwas Ähnliches", sagte Goda der Deutschen Welle. "Das ist einfach nie passiert." Als Beispiel nennt er Wilhelm Höttl, einst Mitarbeiter des österreichischen Sicherheitsdiensts (SD), der nach dem Krieg von US-Geheimdiensten angeworben wurde. "Irgendwann fand die CIA heraus, dass die Geheimdienst-Berichte, die Wilhelm Höttl schrieb, auf Zeitungsartikeln basierten, die er gelesen hatte."
Die von den Amerikanern rekrutierten Deutschen, so Goda, waren einfach keine guten Agenten, was dazu führte, dass viele von den Sowjets abgehört oder umgedreht wurden. Was die Forscher jedoch wirklich überraschte, war der Mangel an Informationen der US-Dienste über die Vergangenheit ihrer Rekruten. Dabei waren die betreffenden Akten häufig verfügbar und sogar unter amerikanischer Kontrolle. "Anders ausgedrückt: Es wäre sehr einfach gewesen, diese Dinge herauszufinden", so Gota.
Unglaubliche Fälle
Wegen fehlender oder mangelnder Überprüfung wurden Männer angeworben, die persönlich an schweren Nazi-Verbrechen beteiligt waren. "Es gab einen Fall in den frühen 1950er Jahren, als die Spionageabwehr der US-Army einen Mann namens Hermann Höffle einstellte." Doch der war zuvor ein leitender Mitarbeiter von Odilo Globocnik, einem österreichischen Nazi und SS-Führer, der im Zusammenhang mit der "Aktion Reinhard" für die Ermordung von mehr als einer Million Juden in Polen verantwortlich war. "Das war also kein unbekannter Gestapo-Mitarbeiter", macht Forscher Goda deutlich. "Höffle war ein führender Mitarbeiter bei einer wichtigen Vernichtungskampagne in Polen."
US-Dienste warben Höffle an, um rechte Gruppen in der Gegend von München zu beobachten - ohne genau zu wissen, mit wem sie es zu tun hatten, betont Goda. "Die Tatsache, dass es überhaupt eine Beziehung zu diesem Mann gab, der später von den Westdeutschen verhaftet wurde, ist wirklich unglaublich."
Dennoch ist es zu einfach, mit dem Wissen von heute die US-Geheimdienste von damals für die Anwerbung teils schwer belasteter Personen pauschal zu kritisieren. "In den USA herrschte eine Stimmung, in der man sich ernsthaft bedroht gefühlt hat", sagt Micha Brumlik, ehemaliger Leiter des Frankfurter Fritz-Bauer-Instituts zur Holocaustforschung. Moralische Fragen spielten im Vergleich zur Eindämmung der Sowjetunion eine untergeordnete Rolle.
"Man darf auch nicht vergessen", so Brumlik im DW-Interview, "dass zu Beginn der 1950er Jahre in den USA der sogenannte McCarthyismus herrschte, eine geradezu hysterische, paranoide Kommunistenfurcht. Und vor diesem Hintergrund scheute man sich dann auch nicht, Verbrecher in Dienst zu stellen, um diesen neuen - und wie man glaubte unglaublich gefährlichen - Gegner zu bekämpfen."
Gefragt, ob man etwas aus dieser Episode für die Gegenwart lernen können, zeigen sich die Experten Brumlik als und Gota skeptisch. Es liege einfach in der Natur von Geheimdiensten, mit dubiosen oder belasteten Charakteren zusammenzuarbeiten. "Wenn es überhaupt eine Lehre gibt, dann ist es die, wirklich über seine Quellen Bescheid zu wissen”, sagt US-Historiker Gota.