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Neonazi-Aussteiger warnt

Andrea Grunau15. Februar 2013

Er wirkt sympathisch und reflektiert, doch er erzählt von einer Jugend voll tödlicher Gewalt und Menschenverachtung. Früher hat er selbst Kinder rekrutiert, jetzt arbeitet er gegen den Einfluss der Rechtsextremisten.

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Das Bild zeigt Neonazi-Aussteiger Sascha (Name geändert) am Präventionstag gegen Rechtsextremismus beim Gespräch mit der Klasse 10d an der Gesamtschule Schwerte (Foto: DW)
Bild: DW/A. Grunau

Sascha (Name geändert, auf dem Foto vorne, 2. von rechts) ist entsetzt über die Morde der Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU). Die massive Gewaltbereitschaft und Menschenverachtung habe ihn aber nicht überrascht, sagt er. Von seinem Leben als "asozialer Gesellschaftsterrorist" berichtet er der Klasse 10d an der Gesamtschule Schwerte am Präventionstag gegen Rechtsextremismus. Noch 20 Jahre nach seinem Ausstieg aus der Neonazi-Szene will er seinen richtigen Namen nicht nennen und sein Gesicht nicht öffentlich zeigen. Er fühlt sich bis heute bedroht. Zusammen mit Thomas Schwengers vom Jugendamt Schwerte, der die Präventionstage gegen Rechts koordiniert, warnt er die Jugendlichen, wie leicht man in die rechte Szene rutschen könne, und wie schwer es sei, einen Ausstieg zu finden.

Sascha (39) erzählt den 15- bis 16-jährigen Schülern, was er gemacht hat, als er so alt war wie sie: "Ich habe meinen ganzen Tag damit verbracht, anderen Leuten das Leben zur Hölle zu machen. Mit jedem Opfer fühlte ich mich größer." Gewalt bestimmte sein Leben: "Ich habe kleinere Kinder geschlagen und Frauen, Behinderte aus Rollstühlen getreten, habe den Leuten die Haare angezündet. Im Zug, im Bus, wenn jemand eingestiegen ist, der mir nicht passte, habe ich mich an den Stangen oben festgehalten, bin dem mit beiden Stiefeln ins Gesicht gesprungen und dann ausgestiegen." Anschließend ging er zur Schule.

Freundschaft, Bier und Erlebniscamp mit Kalaschnikow

Geködert hatten ihn die Rechtsextremen nicht mit radikalen Botschaften sondern mit Freundschaft. Als er 12 Jahre alt war und in der Schule ein Außenseiter sprachen ihn junge Männer an. Sie holten ihn mit dem Auto ab, boten ihm Bier an und Erlebniscamps: "Du hängst da mit 20-Jährigen in Belgien im Wald rum, zeltest, machst ein Riesen-Lagerfeuer und ballerst am nächsten Tag mit einer scharfen AK47", einer Kalaschnikow. Sein Einstieg in die Szene "hatte nichts mit Politik oder Fremdenhass zu tun", sagt Sascha, "ganz im Gegenteil. Ich hatte da noch italienische und türkische Freunde". Diese unpolitische Anwerbung sei bis heute typisch, bestätigt Thomas Schwengers vom Jugendamt Schwerte, der sich seit Jahren mit Rechtsextremismus beschäftigt.

Weil Sascha bei den neuen "coolen Freunden" dazu gehören wollte, habe er die Gewalt akzeptiert. "Und beim zehnten Mal bist du derjenige, der vielleicht mit einer Flasche Bier zuschlägt anstatt mit der Hand“, erinnert er sich. Als Jüngster habe er sich besonders angestrengt, "und ehe du dich versiehst, hast du 13, 14 Vorstrafen und bist 15 Jahre alt". Er konsumierte regelmäßig Alkohol und Drogen, während die Szene Flugblätter verteilte gegen "Drogenhandel durch Ausländer". Bis er gemerkt habe, dass alles in eine falsche Richtung laufe, sei er so in Straftaten verstrickt gewesen, dass er nicht mehr einfach aussteigen konnte.

Über rechtsextreme Musik und aggressive Parolen wurden ihm Rassismus und ein rechtes Weltbild eingetrichtert, erzählt Sascha. Der Kontakt zu seinen ausländischen Freunden brach ab, sein Menschenbild verzerrte sich: "Unwertes Leben waren für mich ab diesem Zeitpunkt der neuen Freundschaften ausländische Mitbürger oder halt Andersdenkende." Er rannte rechten Phrasen vom "Endsieg" und "Großdeutschen Reich" hinterher, ohne konkrete Vorstellung, was das heißen sollte. Er wollte nur dazu gehören, sagt er, so sei es vielen gegangen. Sascha gründete für die rechtsextreme NPD neue Verbände, entwarf Flyer und gab Schulungen. Er rekrutierte neue Anhänger, indem er Jugendliche ansprach.

Hilflose Eltern, schreckliche Tat

Die Schwerter Schüler wollen wissen, wie seine Eltern reagierten und wie er doch noch den Ausstieg schaffte. Sascha antwortet, sein Vater habe sich rausgehalten, seine Mutter sei überfordert gewesen. Selbst wenn sie ihn nach Straftaten bei der Polizei abholte, wiegelte sie ab: "Ich kenn' ja meinen Kleinen, so was würde der nie machen." Als er mit verbotener Hakenkreuzfahne vom Flohmarkt kam, sagte sie: "Die würde gut über dein Bett passen." Ein halbes Jahr später, erzählt Sascha, "sah mein Zimmer aus wie der Führerbunker". Der Ausstieg gelang ihm erst nach sieben Jahren, als er für eine schwere Straftat ins Gefängnis kam und sich dort erstmals wieder nüchtern mit sich selbst auseinandersetzte.

"Welche Straftat?", fragt eine Schülerin. Sascha schaut sie an und räuspert sich, dann erst antwortet er: "Ich habe im Alter von 19 Jahren mit einem Freund zusammen einen Obdachlosen getötet". Betretenes Schweigen im Klassenraum. Dann neue Fragen: Wie kommt man dazu? Wie ist das Gefühl danach? Saschas Antworten spiegeln zunächst den zynischen Gewalttäter von damals: "Keine Ahnung, hatte ich Bock drauf. Der war halt gerade da. Falsche Zeit, falscher Ort."

Neonazi-Aussteiger Sascha (Name geändert) mit einer Sturmhaube (Foto: DW)
Ex-Neonazi Sascha will auch 20 Jahre nach seiner Tat und seinem Ausstieg sein Gesicht nicht zeigenBild: privat

Dann aber lässt er seine Betroffenheit, seine Scham und Schuldgefühle spüren angesichts der Tat, die er mit 3,3 Promille Alkohol im Blut verübt hat - was sich für ihn stark schuldmindernd auswirkte. "Schrecklich" fühle sich das bis heute an, sagt er: "Was dich nachts beschäftigt, was in deinem Kopf rumgeht. Damit fertig zu werden, dass man, ja, dass man ein Mörder ist, das ist die eigentliche Strafe und die ist nicht nur angemessen, sondern berechtigt."

Nach einem Jahr Untersuchungshaft wurde Sascha zu einer Bewährungsstrafe und zur Zahlung eines sechsstelligen Schmerzensgeldes verurteilt. Sein Opfer starb nach der Verhandlung. Im Gefängnis habe er gemerkt: "Das ist alles falsch, was ich mache."

Ausstieg, Drohungen und Wende um 180 Grad

Mit dem Rückhalt seiner Familie gelang ihm der Ausstieg. Die Szene sah das als Verrat, schließlich galt er mit seinem Insiderwissen als "Geheimnisträger". Kurz nach seiner Gefängnisentlassung lauerte ihm ein Auto auf, ein ganzes Magazin Munition wurde auf ihn abgefeuert. Er warf sich zitternd vor Angst in den Straßengraben, merkte dann, dass es nur Platzpatronen waren.

Über Drohungen und Gewalt gegen Aussteiger berichtet auch der Innenminister des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen (NRW) Ralf Jäger: Ein ehemaliger Aktivist sei so geschlagen worden, dass er drei Tage im Koma lag. NRW hat 2012 mehrere Neonazi-Kameradschaften verboten und das Programm für Aussteiger ausgeweitet. Der Verfassungsschutz NRW betreut derzeit mit rund 40 Ausstiegswilligen doppelt so viele wie noch 2011. Das ist "bundesweit eine Vorreiterrolle", sagt der Minister.

Sascha hat trotz der Drohungen nie bereut, dass er ausgestiegen ist. Seitdem lebe er erst richtig, erzählt er den Jugendlichen in Schwerte. Er kann sein Interesse an Musik, Kunst und Menschen aus allen Kulturen genießen, das er in der rechten Szene unterdrücken musste. Seine Hobbys und die Herkunft seiner Frau wären zu seiner Neonazi-Zeit undenkbar gewesen, sagt er.

Seit Jahren engagiert er sich aktiv gegen die rechte Szene. Bei einem Anti-Gewalt-Training, das er für ein Jugendamt begleitet hat, merkte er, dass auch rechte Jugendliche, die als "beratungsresistent" galten, ihn an sich heranließen: "Da sind viele Kids und auch junge Männer, die so viel Potenzial an Gewalt in sich haben, denen kann man nur auf Augenhöhe entgegentreten, wenn man weiß, wovon man da redet."

Das erste Mal etwas machen, was auch richtig ist

Der Klasse 10d schärft Sascha ein, dass so etwas wie ihm fast jedem passieren könne, zumal die rechte Szene intensiv um Nachwuchs werbe. Die Jugendlichen kennen Rechtsextreme auch aus Schwerte. Die Kleinstadt ist weniger als 20 Kilometer von Dortmund entfernt, wo die Rechten sehr aktiv sind. Die Schülerin Lynn etwa hat mehrfach erlebt, wie Neonazis andere Menschen "ohne Grund fertig machen, einfach weil sie eine andere Abstammung haben".

Jannik aus der Schülervertretung engagiert sich selbst gegen Rechtsextremismus. Er will wissen, wie er mit einem Bekannten umgehen soll, der fremdenfeindliche Parolen vertritt und offenbar nach rechts abdriftet. Sascha rät ihm, den Kontakt zu halten, die menschenverachtenden Botschaften klar zu verurteilen und abzulehnen, nicht aber den Menschen. Jannik fühlt sich ermutigt. Er ist beeindruckt, "wie jemand aus der Szene rausgekommen ist und dann sagt, ich geh' gegen diese Bewegung vor - trotz der Einschüchterung".

Sascha sind die Gespräche in Schulen und die Arbeit mit rechtsextremen Jugendlichen sehr wichtig, betont er, "weil das eine Wiedergutmachung ist und eine Therapie für mich. Und es ist das erste Mal, dass ich in meinem Leben etwas mache, was sich nicht nur gut anfühlt, sondern auch noch richtig ist. Das ist selten genug gewesen bei mir."