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PolitikEuropa

EU: Neuer "Kompass" für die Sicherheit

24. März 2022

Beim Gipfeltreffen am Donnerstag verabschiedet die EU ihre neue Marschrichtung für die Verteidigungspolitik. Eigene Eingreiftruppe ja, aber keine Konkurrenz zur NATO. Aus Brüssel Bernd Riegert.

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Kompass auf strukturiertem Untergrund
Quo vadis EU? Hilft ein Blick auf den "Strategischen Kompass"?Bild: picture-alliance/Bildagentur-online/DP

Zum ersten Mal haben die 27 Mitgliedsstaaten der EU in einem gemeinsamen Konzept ihre Sicherheitsinteressen aufgeschrieben und festgelegt, welche Maßnahmen sie in den nächsten drei Jahren ergreifen wollen, um Europa stärker und unabhängiger zu machen. "Europa muss lernen die Sprache der Macht zu sprechen", meint dazu etwas martialisch der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell. Der Begriff "strategischer Kompass" ist dabei wörtlich gemeint, denn in dem 40 Seiten starken Papier geht der Blick einmal 360 Grad weit über den ganzen Globus.

Vor allem Russland mit seinem laufenden Angriffskrieg gegen die Ukraine, den Konflikten in Georgien und Moldau sowie der de-facto Steuerung von Belarus wird als hauptsächliche Bedrohung für Europa ausgemacht. Dann folgen China, die instabile Lage auf dem westlichen Balkan, islamistischer Terrorismus in der Sahelzone Afrikas, regionale Konflikte im Nahen Osten und ein Blick auf die Arktis, den Indo-Pazifik und Lateinamerika in der Bedrohungsskala. Hinzu kommen Gefahren aus dem Cyber-Space und dem Weltraum.

"Elektroschock" für die NATO

Vor drei Jahren, als die Idee für einen Kompass von französischen und deutschen EU-Diplomaten vorangetrieben wurde, regierte noch der isolationistische Präsident Donald Trump im Weißen Haus und der französische Präsident Emmanuel Macron erklärte die NATO, das westliche Militärbündnis für "hirntot". Jetzt hat sich die Lage in Europa radikal geändert. Emmanuel Macron sieht nun, dass "Russland uns ein Weckruf verpasst hat. Ich habe immer gesagt, wir brauchen strategische Aussagen und die bekommen wir jetzt." Die NATO, so Macron, habe einen "Elektroschock" erhalten, nachdem Russland die Ukraine angegriffen hat.

Frankreich EU Gipfel im Schloss Versailles - Josep Borrell und Emmanuel Macron
EU-Außenbeauftragter Borrell (li.), Frankreichs Präsident Macron: Wir brauchen neuen SchwungBild: Christian Liewig/abaca/picture alliance

Allen Politikern und Politikerinnen in der EU ist noch einmal ganz klar geworden, dass Europa sich nur mit der NATO, also mit den amerikanischen Verbündeten, verteidigen lässt.  Die EU mit ihrem strategischen Kompass trete deshalb keinesfalls in Konkurrenz zur NATO-Allianz, meint Michael Gahler, Europa-Abgeordneter und außenpolitischer Experte der christdemokratischen Fraktion. "Die kollektive Verteidigung wird weiterhin mit der NATO bewerkstelligt müssen auf absehbare Zeit." Auch der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell lässt auf die NATO, der ja 21 der 27 EU-Mitglieder angehören, nichts kommen. "Sie bleibt das Herz unserer territorialen Verteidigung", verspricht er und versucht so vor allem amerikanischen Kritikern an europäischen Emanzipationsversuchen, den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Eingreiftruppe unter deutscher Führung

In ihrem Strategie-Papier nimmt sich die EU vor, eine gemeinsame Eingreiftruppe von 5000 Soldatinnen und Soldaten bis 2025 aufzubauen, Rüstungsvorhaben besser zu koordinieren und die zu steigernden Militärhaushalte der Mitgliedsstaaten aufeinander abzustimmen. Gemeinsame Projekte sollen dann auch aus dem EU-Haushalt bezuschusst werden. "Erst kommt die Analyse, was die Bedrohung ist, dann kommt die Bestandsaufnahme, was wir haben. Daraus die Schlussfolgerung, was wir brauchen", beschreibt der Europa-Abgeordnete Michael Gahler das Vorgehen. Wenn man die Projekte, die es ja bereits in der europäischen Rüstungsagentur (EVA) gebe, anständig gemeinsam umsetze, dann könne es auch Geld von der EU geben. Deutschland hat zugesagt, am Anfang für 12 Monate den Kern der Eingreiftruppe zu stellen. Die Truppen aus mehreren EU-Staaten sollen "rotieren", also nicht als ein Verband an einem Standort stationiert werden. "Mir ist das ehrlich gesagt zu kurz gesprungen. Da meldet sich Deutschland und sagt, hallo, ich mache das jetzt mal ein Jahr. Das ist nicht das, was erforderlich ist", kritisiert Michael Gahler. Nötig sei ein fester Verband von 5000 Soldaten, der gemeinsam übt, dauerhaft stationiert wird und gemeinsam eingesetzt werden kann.

Europaparlament in Straßburg | Michael Gahler, CDU-Europaabgeordneter
Europaabgeordneter Gahler: Ständige Truppe wäre besserBild: DW

Beispiel Bosnien

Zwei Beispiele für eigenständige Einsätze der Europäischen Union kann Außenpolitik-Experte Gahler sich vorstellen. Zum Beispiel Bosnien-Herzegowina: Wenn der pro-russische, bosnische Serben-Führer Milorad Dodik den Staat mit seiner "Serben-Republik" verlassen wolle, könnte die EU einschreiten. Die NATO könne das vielleicht nicht, weil der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan andere Vorstellungen für die Zukunft des Staates Bosnien-Herzegowina habe. "In dem Augenblick, wo Herr Erdogan Nein sagt, ist der Rückgriff auf NATO-Ressourcen versperrt.  Dann ist der Rückgriff auf die NATO versperrt, weil dort Einstimmigkeit herrscht. Wir müssen aber trotzdem, wenn wir es für erforderlich halten, handeln können", sagte Gahler der DW.

Bosnien und Herzegowina Sarajevo | EU-Mission Eufor
Bundeswehr in Bonsien-Herzegowina: Teil der EU-Mission "EuFor" in dem instabilen StaatBild: Klix.ba

Beispiel Mali

Zweites Bespiel: Evakuierung von europäischen Truppen oder Staatsbürgern. In Afghanistan hatte man im Sommer beim überstürzten Abzug erfahren, müssen, dass es ohne die USA nicht gehe und die EU offensichtlich nicht handeln konnte. "Ein Stück weit zeichnet sich so etwas möglicherweise ab, wenn wir aus Mali abziehen. Da haben wir im Gegensatz zu Afghanistan keine amerikanischen Helfer. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns eigene Möglichkeiten schaffen." Im westafrikanischen Mali sind eine EU-Mission und eine französische Mission gegen Terror-Milizen im Einsatz. Frankreich will sein Engagement bis zum Juni wegen Unstimmigkeiten mit der Militär-Junta in Mali beenden.

Infografik Internationale Truppen in Mali DE

Diesmal soll es klappen

Die EU versucht schon seit zwei Jahrzehnten, eine gemeinsame Eingreiftruppe aufzubauen und ihre strategischen Interessen zu bündeln. Diesmal soll es besser laufen, verspricht Josep Borrell, der EU-Außenbeauftragte. Wenn nicht alle 27 Staaten mitmachen wollten, könnte auch eine kleine Gruppe von Willigen eine Militärmission im Namen der EU durchführen. Die EU-Verträge geben das her, heißt es im Strategie-Kompass. "Die EU muss ihre Bürger und Werte besser schützen. Um das zu erreichen, müssen wir schneller und entschlossener handeln beim Krisenmanagement", sagt Josep Borrell. Die EU-Staats- und Regierungschefs und -chefinnen sollen diesen Kurs jetzt absegnen. Der Schock des Krieges, den Russland nach Europa gebracht habe, werde dabei sicher helfen, meinen EU-Diplomaten.

Atomare Abschreckung

Mittelfristig müssten die Europäer auch die Frage beantworten, wie sie es mit der atomaren Bewaffnung und der Abschreckung Russlands hielten, glaubt Stefanie Babst. Die Sicherheits-Beraterin aus London war zwei Jahrzehnte auf hochrangigen Posten als NATO-Diplomatin im Einsatz. "Der Umstand, dass unsere amerikanischen Verbündeten nach wie vor die Sicherheit Europas und seiner Bürger gewährleisten, findet im 'Strategischen Kompass' nicht statt", schrieb Stefanie Babst in einer Stellungnahme für eine Anhörung im Deutschen Bundestag zum EU-Konzept. "Die EU will mitspielen, gehört werden, und mitgestalten, aber ein wesentliches Machtinstrument erwähnt sie nicht: den nuklearen Schutzschirm der Amerikaner. Der 'Strategische Kompass' gibt keinerlei Hinweise, ob und in welcher Form die Europäer in Zukunft eine eigene nukleare Abschreckungskapazität entwickeln wollen, die logischerweise auf der französischen Force de Frappe (Atomstreitmacht der Französischen Streitkräfte, Anm. d. Red.) basieren müsste". Das wird wahrscheinlich Stoff für den nächsten Kompass sein. Eine Fortsetzung ist laut EU-Diplomaten 2025 geplant.

Porträt eines Mannes mit blauem Sakko und roter Krawatte
Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union