Niederlande: Tempo 100 wider Willen
16. März 2020Es ist leicht, dieses Thema aus Autofahrersicht zu erklären: Die Niederlande haben eines der strengsten Tempolimits der Welt eingeführt. Ab Montag gilt tagsüber landesweit Tempo 100 auf Autobahnen, nur zwischen 19 Uhr abends und 6 Uhr morgens dürfen Fahrer auf ausgewiesenen Streckenabschnitten auf 130 Stundenkilometer beschleunigen. In Europa schreiben nur noch Zypern und Norwegen eine so niedrige Höchstgeschwindigkeit vor.
Der Missmut in den Niederlanden ist groß. In einer Umfrage für das Fernsehmagazin "EenVandaag" gaben 46 Prozent der Befragten an, sich nicht daran halten zu wollen. Niederländische Medien zitierten bereits einzelne Autofahrer mit der Beteuerung, sie wollten damit verbundene Bußgelder in Kauf nehmen.
Opfer für die "Stickstoffkrise"
Es ist weniger offensichtlich, aber ehrlicher, dieses Thema aus Umweltsicht zu erklären: Die Niederlande haben ein gewaltiges Problem mit Stickstoffverbindungen. 50 Kilogramm pro Hektar und Jahr gelangen in die Umwelt - so viel wie in keinem anderen EU-Land. Der EU-Durchschnitt liegt bei 15 Kilogramm.
Das chemische Element Stickstoff an sich ist kein Problem, im Gegenteil: Als Hauptbestandteil der Erdatmosphäre und Bestandteil beispielsweise von Proteinen brauchen wir es zum Leben. Ein Problem können seine chemischen Verbindungen mit Wasserstoff oder Sauerstoff sein: Ammoniak verseucht das Grundwasser, Stickoxide tragen zu Atemwegserkrankungen bei und waren laut Europäischer Umweltagentur 2016 EU-weit für 68.000 vorzeitige Todesfälle verantwortlich. Die EU hat sich daher auf Grenzwerte für verschiedene Luftschadstoffe verständigt, die sich an den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) orientieren. Im Bereich verschiedener Stickstoffverbindungen liegen die Emissionen der Niederlande so weit darüber, dass sich das Wort "Stickstoffkrise" eingebürgert hat.
Dabei hat die rechtsliberale Regierung von Ministerpräsident Mark Rutte indirekt sogar zur Verschärfung beigetragen: 2015 brachte sie das "Programma Aanpak Stikstof" auf den Weg, das eine Überschreitung der Grenzwerte billigte, sofern sie an anderer Stelle eingespart wurden. Das ist unvereinbar mit EU-Recht, befand der Europäische Gerichtshof Ende 2018. Ein halbes Jahr später kippte das oberste niederländische Verwaltungsgericht, der Raad van State, die Regeln endgültig und untersagte Bauprojekte, die die Belastung mit Stickstoffverbindungen verstärken.
Eine "beschissene" Maßnahme
Die Regierung Rutte hatte aber vor der Entscheidung bereits ein Programm aufgelegt, nach dem bis Ende 2020 insgesamt 75.000 neue Wohnungen gebaut werden sollen, um so den Wohnungsmangel etwas zu lindern. Auch beim Bauen werden Stickstoffverbindungen freigesetzt. Das Programm zu stoppen, kam nicht infrage - und so musste Rutte an anderer Stelle kürzen. Die meisten solcher Emissionen kommen aus dem Agrarsektor, laut Berechnungen des Nationalen Instituts für öffentliche Gesundheit und Umwelt (RIVM) 46 Prozent. Die Landwirte müssen nun weniger proteinreiches Futter verwenden, um den Ausstoß zu senken - mehr war mit Ruttes Koalitionspartner, den agrarnahen Christdemokraten (CDA) nicht zu machen.
Also verlagerte sich die Rechnung auf den Sektor mit dem zweithöchsten Anteil: Elf Prozent der Stickstoffverbindungen werden vom Straßenverkehr ausgestoßen. Ruttes rechtsliberale VVD gilt als Autopartei, sie hatte vor wenigen Jahren erst die Erhöhung des Tempolimits von 120 auf 130 Stundenkilometer durchgesetzt. Letztlich blieb dem Ministerpräsidenten aber keine andere Wahl, als zähneknirschend wieder auf die Bremse zu treten. Als er die Maßnahme im November ankündigte, übersetzten manche deutschsprachige Medien sein Urteil dazu als "verfaulte", andere sogar als "beschissene Maßnahme". Gut vorstellbar, dass die VVD mit der unpopulären Entscheidung auch Wählerstimmen einbüßte.
4000 neue Schilder
Vor ein paar Tagen rückten schließlich Hunderte Arbeiter auf die Autobahnen im ganzen Land aus: Tempo-120- und Tempo-130-Schilder wurden überklebt oder gleich abmontiert, etwa 4000 neue Schilder für Tempo 100 wurden angebracht. Mancherorts galt schon vor dem offiziellen Start am Montag so die neue, reduzierte Höchstgeschwindigkeit.
Auf einigen Strecken wird die Geschwindigkeit mit der sogenannten "Trajectcontrole" kontrolliert, bei dem die Durchschnittsgeschwindigkeit errechnet wird, statt punktuell zu messen. Nachträglich soll nun an einigen Stellen mit zusätzlichen Schildern noch einmal klargestellt werden, welche Geschwindigkeit nachts erlaubt ist. Die gesamte Umstellung dürfte am Ende etwa 19 Millionen Euro inklusive Mehrwertsteuer kosten, schätzt die Zeitung "Volkskrant". Die niederländische Polizei plant vorerst nicht, ihre Geschwindigkeitskontrollen auszuweiten.
Nebenaspekt Klima
Der Grund für die Regierungsentscheidung ist schließlich nicht verkehrs-, sondern umweltpolitischer Natur. Das Stickstoff-Budget, das durch die Einsparungen auf der Straße frei wird, soll zu 70 Prozent in den Wohnungsbau fließen, zu 30 Prozent in Natur- und Umweltschutz. Für das Klima indes sollte das schärfste Tempolimit Europas einen positiven Nebeneffekt haben, schließlich wird beim langsameren Fahren nicht nur weniger Stickstoffdioxid, sondern auch weniger Kohlenstoffdioxid frei.
Und auch in Sachen Klimaschutz besteht dringend Handlungsbedarf - hier hat ein hohes Gericht in Den Haag bereits im Oktober 2018 ein Urteil gesprochen, das der niederländische Regierung auferlegt, den Ausstoß von Treibhausgasen drastisch zu reduzieren. Das Tempolimit dürfte seinen Teil dazu beitragen, die Lücke zu den niederländischen Klimazielen zu schließen.