Nigeria: Boko Haram-Anhänger vor Gericht
6. Oktober 2017Mohammed Tola war überrascht, als ihn Verwandte mehrerer mutmaßlicher Boko Haram-Mitglieder vor wenigen Monaten baten, ihre Angehörigen vor Gericht zu vertreten. Tolas Kanzlei im Zentrum von Nigerias Hauptstadt Abuja ist auf Strafrecht spezialisiert. Mit Terrorismus-Verfahren hatten seine Kollegen und er aber bisher wenig Erfahrung.
Boko Haram zählt zu den gefährlichsten Terrorgruppen Afrikas. Mehr als 50.000 Nigerianer sind in dem Konflikt mit der Islamisten-Miliz in den letzten Jahren ums Leben gekommen. Trotzdem war der Anwalt sofort bereit, den Fall zu übernehmen. Auch mutmaßliche Terroristen hätten Anspruch auf ein rechtsstaatliches Verfahren, sagt er. „Wenn es nur darum ginge, was die Öffentlichkeit denkt und sagt, dann gäbe es ja niemals faire Gerichtsverfahren", so Tola.
Überforderte Richter
Kommenden Montag sollen die Prozesse gegen 1600 mutmaßliche Boko Haram-Mitglieder beginnen - mit individuellen Verfahren für jeden Angeklagten. Stattfinden sollen sie in den Gefangenenlagern, in denen die Beschuldigten seit ihrer Festnahme untergebracht sind. Doch die Strafverfahren stehen bereits in der Kritik, bevor sie begonnen haben. Selbst Nigerias Justizminister Abubakar Malami bemängelte vor wenigen Wochen, dass die Beweislage in vielen Fällen miserabel sei und es „kaum qualifiziertes Personal gibt, das die Ermittlungsarbeiten in solch komplexen Fällen durchführen kann."
Der nigerianische Rechtsexperte Mainasara Umar sieht gleich drei grundlegende Probleme, die ihn skeptisch werden lassen. „Sie wollen nur vier Richter bereitstellen. Bei so einer Anzahl an Fällen ist das viel zu wenig", so der Jurist. „Außerdem muss es einen besseren Schutz für Kläger und Zeugen geben. Das Wichtigste ist aber, dass die Zusammenarbeit zwischen Ermittlern und Anklägern einwandfrei funktioniert."
Anwalt Mohammed Tola fürchtet noch ein ganz anderes Problem: Wegen der dünnen Beweislage seien die Ermittler in hohem Maße auf Geständnisse der Angeklagten angewiesen. Aus Erfahrung wisse er, dass in solchen Fällen auch Gewalt angewendet werde, um die mutmaßlichen Täter zum Reden zu bringen. „Ich hatte schon Fälle, da klebte noch Blut an der schriftlichen Aussage des Beschuldigten. Das war eindeutig Folter." Er gehe davon aus, dass in Nigeria bei mindestens 80 Prozent aller Geständnisse gewaltsame Methoden angewendet werden, so der Anwalt. Und das könne schnell dazu führen, dass auch Unschuldige verurteilt würden - vor allem, wenn der öffentliche Druck groß genug sei.
Forderung nach einem Sondergericht
Der anstehende Prozess-Marathon gegen die mutmaßlichen Terroristen ist in seiner Dimension in Nigerias Geschichte einmalig. Bisher gab es erst dreizehn abgeschlossene Prozesse mutmaßlicher Boko Haram-Mitglieder und lediglich neun Verurteilungen. Hinzukommen 33 laufende Gerichtsverfahren, von denen sich einige seit mehreren Jahren hinziehen. Anwalt Tola stellt sich bereits auf lange Prozesse ein. „Ich habe gerade erst mit einem Kollegen gesprochen. Er hat Mandanten, die beschuldigt werden, einen Terroranschlag in der Hauptstadt verübt zu haben", so der Jurist. Aufgrund der schwierigen Beweislage befinde sich der Prozess nun aber bereits im dritten Jahr. „Und ein Ende ist nicht in Sicht."
Für Rechtsexperte Mainasara Umar ist klar: Um bei den anstehenden 1600 Prozessen ein Desaster zu vermeiden, müsse der nigerianische Staat die beteiligten Gerichte unbedingt besser ausstatten. „Ich würde es noch besser finden, wenn man ein eigenes Sondergericht einrichten würde." Dieses Gericht solle die notwendigen personellen und finanziellen Ressourcen bekommen und alle Terror-Fälle - von bewaffneten Aufständen bis hin zu Entführungen - bündeln. Nur so könne man die Verfahren in einer angemessenen Zeit abschließen, so der Jurist. „Verzögertes Recht ist schließlich verweigertes Recht."