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Erinnerungen an den Maestro Harnoncourt

Rick Fulker7. März 2016

"Urknall der historischen Aufführungspraxis" nennt ihn ein Kritiker. Die Musikwelt trauert um den verstorbenen Dirigenten Nikolaus Harnoncourt. Die Bewunderung gilt seinem Können genauso wie seiner Schlagfertigkeit.

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Nikolaus Harnoncourt österreichischer Dirigent (Foto: Reuters/L. Foeger)
Bild: Reuters/L. Foeger

Zum Tode von Nikolaus Harnoncourt schrieb der Dirigent Franz Welser-Möst: "Das Wort Verlust drückt nicht aus, was ich empfinde". Welser-Möst wies auf die "unerschütterliche Kreativität" des Kollegen hin und nannte Harnoncourt einen Musikinterpreten, "der unsere Welt mehr als jeder andere in den letzten 50 Jahren geprägt hat".

Tiefe Trauer empfand auch Mathis Huber, der Intendant des von Harnoncourt gegründeten "styriarte"-Festivals in Graz. Für ihn bleibe nur der Trost, "dass er jetzt seinem Mozart und seinem Bach jene Fragen stellen kann, die auch er bis jetzt nicht beantworten konnte."

Im Namen der Wiener Philharmoniker, deren Ehrenmitglied er war, schrieb der Vorstand Andreas Großbauer: "Seine bahnbrechenden Interpretationen führten uns an unsere Grenzen und darüber hinaus. Sie haben uns vor den Kopf gestoßen, erschüttert - und überzeugt."

Honrnoncourt und Lang Lang beim euromaxx-Dreh (Foto: DW)
Die Zusammenarbeit mit dem chinesischen Pianisten Lang Lang wurde in einem DW-Dokumentarfilm festgehaltenBild: DW

Aus dem Blätterwald

Kaum ein Feuilleton im deutschsprachigen Raum, das nicht eine ausführliche Wertung des Maestros gedruckt hat. Die "Welt" schrieb: "Er war der Urknall der historischen Aufführungspraxis und der wichtigste Dirigent nach Karajan. Harnoncourt machte das Altvertraute wieder gefährlich. Und das Abgestumpfte wieder spitz."

Und in der "Frankfurter Rundschau" hieß es: "Durch Harnoncourt hat die Musik ihre Schärfe zurückbekommen, ihre Entschiedenheit. Ihren Charme, ihren Witz." Ferner hob der Rezensent Harnoncourts nachhaltigen Einfluss auf die Musikwelt hervor: "Kaum mehr ein Dirigent, ein Orchester, das nicht den rhetorischen, den atmenden Gestus der Musik sucht."

Unangepasster Adeliger

Nikolaus Harnoncourt wurde 1929 in Berlin als Johannes Nicolaus Graf de la Fontaine und d'Harnoncourt-Unverzagt in den luxemburgisch-lothringischen Hochadel hineingeboren. Seine Mutter war gar die Ur-Ur-Ur-Enkelin von Kaiser Franz I.

Dirigent Nikolaus Harnoncourt (Foto:AP Photo/Keystone/ Sigi Tischler)
Nicht der informierte, sondern der neugierige GeistBild: picture-alliance/dpa/B. Gindl

Etwas von einer adeligen Ausstrahlung muss der Musiker wohl als junger Mann besessen haben. Als Harnoncourt sich 1952 als Cellist bei den Wiener Symphonikern bewarb, stellte ihn deren Chefdirigent Herbert von Karajan ohne Probespiel ein und erklärte: "Wie der sich schon hinsetzt, den engagiere ich."

Die Bewunderung war keinesfalls gegenseitig. In späteren Jahren fand Harnoncourt zwar Worte der Anerkennung für Karajans musikalische Transparenz und Sinn für Struktur. Seinen "Schönklang" lehnte er jedoch stets entschieden ab. Für den jungen Künstler wurde Karajan sogar Sinnbild für alles, was er an der Musizierpraxis ablehnte. Zum Bruch kam es dann nach Harnoncourts Bemerkung, Karajan sei "ein guter Porschefahrer". Der Altmeister vergaß das nie.

Ein adeliger Privilegierter, der sich nicht besonders anstrengen musste? Weit verfehlt. Auf einem Schwarzweißfoto auf seiner Homepage sieht man Nikolaus Harnoncourt als jungen Mann, auf dem Sofa schlafend, Cello auf dem Bauch liegend. Über eine Begleitmusik mit einem vorbeirauschenden Notenblatt wird dann sein Lebenswerk in Zahlen zusammengefasst: "1 Leben für die Musik / 1 Dirigent / 2 Neujahrskonzerte / 9 Welttourneen / 28 Fracks / 43 Opern von Monteverdi bis Gershwin / 1938 Darmseiten / 7240 Stunden am Dirigentenpult / 12.842 Liter Schweiß / 293.218 Notenblätter / 48.849.000 verbrannte Kalorien / 1.000.000 Informationseinheiten". Was darin noch fehlt: an die 500 Aufnahmen für Schallplatte und CD. Außer Herbert von Karajan und Neville Marriner hat kein Dirigent so viele Aufnahmen gemacht wie Harnoncourt.

Als "der personifizierte Widerstand", als jemand, "der alles infrage stellt", verriet Harnoncourt, dass diese Haltung in seiner Kindheit tief verwurzelt läge: "Auch als ich klein war, nahm ich immer den gegensätzlichen Standpunkt ein." Und: "Es stimmt schon, ich habe mit zehn Jahren aus heiterem Himmel zu meinem Vater gesagt: 'Höflichkeit ist Lüge'".

Nikolaus Harnoncourt Wiener Philharmoniker. Foto: REUTERS/Leonhard Foeger/Files
Beim traditionellen Neujahrskonzert der Wiener PhilharmonikerBild: Reuters/L. Foeger

Zunächst belächelt, dann geliebt

In den frühen Jahren der von ihm und seiner Frau Alice vorangetriebenen "Originalklang-Bewegung mit dem Musizieren auf historischen Instrumenten" wurde er als "Darmsaitenritter" belächelt. "Die Harnoncourts sitzen auf Apfelkisten unter ihren teuren Geigen und ernähren sich von Erdäpfeln und Salat", hieß es damals in Wiener Kreisen.

Es war nicht nur die Wiederentdeckung alter Instrumente, sondern auch die penible Forschungsarbeit, die Harnoncourt zum Vorbild der "Alte Musik"-Szene machte. "Historisch informiert" war der Schlüsselbegriff. Dazu gab es allerdings vom Dirigenten diese spitze Bemerkung: "Beim Ausdruck 'historisch informiert' wird mir schlecht." Er halte sich "nicht für informiert, sondern für neugierig".

"Die Kunst hat viele richtige Auslegungen, aber auch viele falsche", sagte Harnoncourt in einem Interview mit der österreichischen Zeitung "Der Standard". Das mag auf eine dogmatische Haltung schließen, aber weit verfehlt: "Ich weiß ja, dass zu fast jeder Meinung und Erkenntnis die gegenteilige Meinung und Erkenntnis auch stimmt. Das Leben ist nicht so einfach. Ich lerne ja nur durch Kritik."

Diese grundsätzliche Offenheit spiegelte sich in Harnoncourts Arbeit mit Orchestern wider. "Ich habe Musiker stets dazu ermuntert, mir sofort zu signalisieren, wenn ihnen irgendetwas in meinen Erklärungen spanisch vorkommt. Und wenn im Gegenzug sie mich von etwas überzeugen konnten - und auch das ist passiert -, dann wurde es eben so gemacht."

Harnoncourt dirigierte stets ohne Taktstock, setzte dabei nur seine Hände und Augen ein - und seine emotionale/intellektuelle Präsenz. Was dem Dirigenten allerdings fehlte war eine deutliche Schlagtechnik. "Wir sehen gar nicht hin", verriet ein Orchestermusiker. Eine Kollegin ergänzte allerdings: "Wir spielen nur, um ihn glücklich zu sehen".

Lob und Anerkennung gab es viel, auch ein ECHO-Klassik-Preis für sein Lebenswerk im Dezember 2014. Harnoncourt hat das nicht uneingeschränkt genossen: "Jetzt werde ich dauernd für mein Lebenswerk lobgestrudelt. Furchtbar. Das klingt so abgeschlossen. Ich bin doch noch nicht fertig! Oder wollt ihr, dass ich alter Trottel aufhör?"

Nikolaus Harnoncourt dirigiert (Foto: picture-alliance/dpa)
Der Maestro eröffnete 2006 das Mozartjahr in SalzburgBild: picture-alliance/dpa

Kunst ist universell, aber selten

Der Dirigent, der sich Gershwin und Johann Strauß ebenso intensiv widmete wie Monteverdi und Bach, unterschied nie zwischen ernster und Unterhaltungsmusik. Harnoncourt habe "den Blues im Blut", hieß es in der Zeitung "Die Welt" 2009. Das Thema war seine Interpretation des Gershwin-Musicals "Porgy and Bess" in Graz.

"Bei Jazz-Sängern wie Frank Sinatra", so bekannte er, "habe ich erstmals angefangen mich zu wundern: Warum singen die so- und wieso stellt sich ein Klassik-Sänger hin und singt einfach Noten?!"

Der vielfältig kunstinteressierter Mensch hatte eben einen breiten Horizont: "Shakespeare ist für mich sehr heutig, und Michelangelo ist für mich kein alter Bildhauer. Bach und Monteverdi sind nicht zeitgebunden, sondern universell. Das sind freilich nur wenige Künstler."

Musikalische Grenzerfahrungen

Zu seinem grundsätzlichen künstlerischen Ansatz gibt es diese Kernaussage von Harnoncourt: "Musik muss die Seele aufreißen."

"Die Kunst ist eben keine hübsche Zuwaage - sie ist die Nabelschnur, die uns mit dem Göttlichen verbindet, sie garantiert unser Menschsein", schrieb er. Und: "Um schön zu sein, muss sich die Musik an der äußersten Kante der Katastrophe bewegen".

Dass diese Haltung seinen Preis hat, lässt auch diese Äußerung vermuten: "Ich würde mich schämen, wenn bei mir sonst irgendetwas gleich geblieben wäre. In Wahrheit bin ich heute schon nicht mehr der, der ich gestern war."

Ein vorletztes Zitat: "Unmöglichkeiten sind die schönsten Möglichkeiten."

Nur ein Mensch, der eine optimistische Grundhaltung besitzt, kann so etwas behaupten, möchte man denken. Aber auch zu diesem Punkt gab Harnoncourt Kontra: "Ich glaube, dass es wenig geistig interessierte Menschen gibt, die Optimisten sind. Weil Optimismus immer einen gewissen Grad an Blödheit voraussetzt."