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PolitikUkraine

Nikopol in der Ukraine - Leben unter ständigem Angriff

14. Oktober 2024

Einst lag Nikopol am Ufer des Kachowka-Stausees im Süden der Ukraine. Doch der Damm ist zerstört, die Stadt liegt unter russischem Dauerbeschuss. Viele Einwohner sind geflohen; wer blieb, muss irgendwie zurechtkommen.

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Blick auf das AKW Saporischschja von Nikopol aus im September 2024, über eine Landschaft aus Gras und kleinen Bäumen
Blick auf das AKW Saporischschja von Nikopol aus im September 2024Bild: Yevhen Shilko/DW

 

"Hier war der Stausee und da unser Strand", sagt der 30-jährige Wladyslaw und zeigt durch das Fenster seines Autos auf eine mit Gras und jungen Bäumen bewachsene Landschaft. In der Ferne ist Europas größtes Atomkraftwerk Saporischschja zu sehen. Einst lag Nikopol am Ufer des  Kachowka-Stausees, doch von dem ist heute nicht mehr viel übrig. Die Staumauer und das Wasserkraftwerk waren im Juni 2023 bei einer Explosion zerstört worden. Die Wassermassen strömten damals den Dnipro hinab und überschwemmten ganze Ortschaften. Der Süden der Regionen Cherson und Saporischschja wurde im Frühjahr 2022, kurz nach dem Beginn von Russlands umfassendem Krieg gegen die Ukraine, von der russischen Armee besetzt. Sie übernahm nicht nur die Kontrolle über das Wasserkraftwerk, sondern auch über das dortige Atomkraftwerk nahe der Stadt Enerhodar. Seitdem ist die russische Artillerie nur fünf Kilometer von Nikopol entfernt. Die Stadt wird neuerdings auch mit Drohnen angegriffen.

"Den Menschen wieder Strom geben"

Bürgermeister Oleksandr Sajuk sagt, die Einwohnerzahl von Nikopol habe sich von einst rund 100.000 Menschen inzwischen halbiert. Wladyslaw ist geblieben, ungeachtet der ständigen Angriffe arbeitet er hier für das Energieunternehmen DTEK. Mit ihm und seinen Kollegen fahren wir in den gefährlichsten Teil der Stadt, gleich am Ufer des einstigen Stausees. Wieder einmal hat der russische Beschuss hier Elektroleitungen beschädigt, die Bewohner mehrerer Straßen sind ohne Strom.

Zwei Männer auf einer Hebebühne reparieren Stromleitungen an einem Mast
Reparaturen von Stromleitungen in NikopolBild: Hanna Sokolova-Stekh/DW

Auf einen ersten Angriff folge oft ein weiterer, erklärt Wladyslaw, daher könnten die Techniker nicht immer sofort zu Reparaturen ausrücken. "Wir mussten schon mehrmals vor Drohnen fliehen", erläutern die Männer. Plötzlich ertönt erneut Luftalarm, doch Schutz können hier nur die Keller von Wohnhäusern bieten. "Wir sind hier wie auf einem Präsentierteller", sagt der 27-jährige Maksym.

Bis zur Entwarnung warten die Techniker hinter einem von Splittern durchlöcherten Zaun, dann machen sie sich an die Arbeit. "Es ist schön, den Menschen wieder Strom zu geben", sagt Maksym: "Solange diese Menschen weiter hier leben, werde auch ich immer wieder hierherkommen."

Der Techniker Maksym mit zwei Kollegen bei einem Fahrzeug mit Hebebühne bei ihrer Arbeit in Nikopol
Der Techniker Maksym (vorne im Bild) in Nikopol bei seiner ArbeitBild: Hanna Sokolova-Stekh/DW

"Es ist mein eigener Grund und Boden"

In einer verlassenen Straße taucht eine ältere Frau auf, sie stellt sich als Elena vor. Sie geht in den Hof hinter ihrem heruntergebrannten Haus, um ihre Hunde zu füttern. Ihr Haus ist zerstört worden, als sie gerade bei der Arbeit in einer Fabrik war. Auch sie erzählt, dass sie wiederholt vor den Drohnen Schutz suchen musste. Da sie all dies nicht mehr ertragen konnte, sei sie zu ihrer Schwester gezogen, die weiter vom Dnipro-Ufer entfernt wohnt. "Sie müssen die Hunde schnell füttern und dann wieder gehen", sagt Wladyslaw zu der Frau. "Ja, ich weiß", erwidert sie ruhig.

Während die Techniker die Stromleitungen reparieren, kommen zwei Rentnerinnen aus ihren Häusern. Faina und Ljudmyla sind womöglich die letzten Bewohnerinnen in dieser Straße. "Wie Sie sehen, leben wir noch," antwortet Ljudmyla auf die Frage der DW-Reporterin zu den Folgen des Beschusses, "aber eine Katze wurde getötet." Beide Frauen halten jeweils einen Schlüsselbund in ihren Händen - für die Häuser ihrer weggezogenen Nachbarn. Dort füttern sie die zurückgelassenen Haustiere.

Ljudmyla steht vor dem Eingang ihres Hauses in Nikopol
Ljudmyla vor ihrem Haus in NikopolBild: Hanna Sokolova-Stekh/DW

Auch Ljudmylas Haus wurde bei einem Angriff beschädigt. Sie aber denkt nicht ans Wegziehen. Die Frau hat vor ihrem Haus Blumen gepflanzt. "Warum auch nicht? Es ist doch mein eigener Grund und Boden", sagt Ljudmyla und erklärt, dass sie sich immer schon um alles gekümmert und früher auch gut hier gelebt habe.

"Ich will mich den Russen nicht unterordnen"

Auch im Zentrum von Nikopol sind nur wenige Menschen zu sehen. In den leeren Straßen verkehren Busse, vor dem Rathaus sprudelt ein Springbrunnen. "Das Leben ist hart, aber für die Menschen hier geht es schon irgendwie weiter", erzählt Bürgermeister Sajuk. "Und die Unternehmen in der Stadt arbeiten auch, selbst wenn sie nicht voll ausgelastet sind."

Zwei städtische Mitarbeiter reinigen mit Besen und Schubkarre die Straßen im Zentrum von Nikopol
Städtische Mitarbeiter reinigen die Straßen im Zentrum von NikopolBild: Hanna Sokolova-Stekh/DW

Vor dem Krieg zählte Nikopol zu den wichtigsten Industriestädten der Ukraine. "Wenn man heute zur Arbeit geht, weiß man nicht, ob man zurückkommt", sagt Sajuk. Während des Krieges seien bereits 60 Zivilisten in Nikopol durch russischen Beschuss getötet und mehr als 400 verletzt worden.

Mitten in der Stadt treffen wir auf den 36-jährigen Mychajlo. Er kehrte erst Anfang des Jahres vom Militärdienst in seine Heimatstadt zurück. "Ich habe viele zerstörte Häuser gesehen. Der Friedhof wurde erweitert. Kaum jemand ist hier geblieben", sagt er, während er auf der Terrasse eines Cafés sitzt. Auch Mychajlo arbeitet jetzt wieder in einer Fabrik, gleich nach Beginn des russischen Angriffskrieges hatte er sich zum Militärdienst gemeldet. "Ich hatte mir Gedanken darüber gemacht, was passieren würde, sollten die Russen die Ukraine besetzen. Wie würde ich dann leben? Ich will mich ihnen nicht unterordnen."

Mychajlo steht auf der Straße in Nikopol
Mychajlo aus Nikopol im Gespräch mit der DWBild: Hanna Sokolova-Stekh/DW

Mychajlo wurde von seinem Vater zum Einberufungsamt begleitet; auch er hatte beschlossen, sein Heimatland zu verteidigen. Beide Männer kamen zur selben Infanterie-Brigade - Mychajlo kommandierte eine Artilleriebatterie, sein Vater diente als Fahrer. "Es war schwer mitanzusehen, wie die feindliche Artillerie die Einheit meines Vaters beschoss. In nur einer Stunde rauchte ich eine ganze Schachtel Zigaretten", erinnert sich Mychajlo. Bei einem Angriff wurde sein Vater durch einen Granatsplitter in der Brust verwundet, weshalb er Anfang letzten Jahres aus der Armee ausschied.

Blick ins Innere des von Minen beschädigten zivilen Gebäudes in Nikopol
Ein von Geschossen getroffenes Wohnhaus in NikopolBild: Hanna Sokolova-Stekh/DW

Ein Jahr später musste auch Mychajlo wegen gesundheitlicher Probleme infolge einer Verwundung die Armee verlassen. Heute kümmert er sich um seinen 57-jährigen Vater. "Es bleibt das Gefühl, dass man seine Sache nicht zu Ende gebracht hat", sagt Mychajlo über seine Rückkehr aus der Armee und die Anpassung an das zivile Leben. Er unterzog sich einer Psychotherapie und ist nun wieder zurück an seinem früheren Arbeitsplatz.

"Die Arbeit ist meine Rettung"

Auch die 49-jährige Lilia Schemet ist in der Stadt geblieben und arbeitet weiter in einer Fabrik. "Ich bin alleinstehend, die Arbeit ist meine Rettung", sagt die Frau. Nach ihrer Schicht fährt sie nach Hause, in einen Vorort von Nikopol, wo ihre Hunde und Katzen auf sie warten.

Lilia Schemet füttert vor ihrem Haus zwei Hunde und eine Katze
Lilia Schemet füttert vor ihrem Haus ihr TiereBild: Hanna Sokolova-Stekh/DW

Einst hatte sie eine große Familie. Doch ihre älteren Töchter flohen bereits früh mit ihren Kindern. Dann half Lilias Arbeitgeber, ihre jüngeren Kinder in einem Erholungsheim in Sicherheit zu bringen. Ein Jahr später wurde ihr Mann getötet, als er bei der Reparatur zerstörter Häuser half. Später schlug auch eine Granate in Lilias Garten ein, wobei ein Hund getötet und ihr Haus beschädigt wurde. "Erst wollte ich kündigen und auch weggehen", erinnert sich die Frau. Doch in ihrer Arbeit findet sie Halt. Sie habe sogar gelernt, einen Lastwagen zu fahren. "Das hilft, um weniger zu grübeln", sagte sie.

Am Wochenende besucht Lilia ihre Kinder im Heim und unter der Woche ruft sie bei ihnen an, um zu fragen, ob sie ihre Hausaufgaben gemacht haben. "Ihre Kindheit ist nicht mehr dieselbe wie vor dem Krieg, sie denken schon wie Erwachsene", sagt die Frau. Den ersten Beschuss ihres Wohnortes hätten die Kinder miterlebt und würden daher immer fragen, ob es wieder geknallt habe. "Was soll ich ihnen sagen? Sie lesen ja selbst Nachrichten", seufzt Lilia. Die Frau schläft im Wohnzimmer ihres Hauses, wo früher die ganze Familie zusammen gegessen hatte. Sie lässt das Fenster immer leicht geöffnet, um die Drohnen besser hören zu können.

"Jagd auf Rettungskräfte"

Die Menschen vor Ort berichten, die russische Armee beschieße Nikopol und seine Vororte in letzter Zeit am hellichten Tag. "Mehr als zehnmal pro Tag", sagt der Feuerwehrmann Ihor Tkatschuk, der vor einem brennenden Gebäude steht. Seit zwei Tagen versuchen seine Männer diesen Brand zu löschen. Zwei Geschosse waren in das Dach eingeschlagen.

Portrait von Ihor Tkatschuk in Schutzkleidung und Helm mit Funkgerät in der Hand
Ihor Tkatschuk leitet eine Feuerwehrgruppe in NikopolBild: Hanna Sokolova-Stekh/DW

Wie die Elektriker werden auch die Feuerwehrleute oft zur Zielscheibe russischer Angriffe. Einen Kollegen hat die Truppe bereits auf diese Weise verloren, vier weitere wurden verletzt, neun sind Feuerwehrfahrzeuge zerstört. Tkatschuk spricht von einer "Jagd auf Rettungskräfte" durch die russische Armee.

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk