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Literatur

Nora Bossong zur neuen Politikergeneration

Christine Lehnen
3. März 2022

Deutschlands junge Politiker kannten bislang nur Frieden. Die Autorin Nora Bossong erklärt, was man angesichts des Krieges in der Ukraine von ihnen erwarten kann.

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Nora Bossong hält ein Mikrofon in der Hand und hört einem Gesprächspartner zu
Die Schriftstellerin Nora Bossong auf der Frankfurter Buchmesse im Jahr 2019Bild: Imago Images/M. Segerer

Nora Bossong ist eine der wichtigsten deutschen Intellektuellen. Die Schriftstellerin gehörte zwei Jahre lang dem Präsidium des deutschen PEN-Zentrums an und setzt sich seit Jahren für Demokratie, Frieden und Menschenrechte ein. Zuletzt veröffentlichte sie ein Sachbuch über ihre Generation, "Die Geschmeidigen". Damit meint sie die heute um die 40-Jährigen, die inzwischen in Deutschland an den Schaltstellen der Macht sitzen, wie Außenministerin Annalena Baerbock, oder Finanzminister Christian Lindner. Für ihr Buch begleitete sie während des vergangenen Wahlkampfs zahlreiche deutsche Politikerinnen und Politiker.

DW: Frau Bossong, in Ihrem jüngsten Buch schreiben Sie über die neue Generation von Politikern in Deutschland: sie seien "geschmeidig", konsensorientiert, kompromissbereit, aber es fehle ihnen auch an Haltung, an Reife. Dazu zählen Sie auch Außenministerin Annalena Baerbock. Wie bewerten Sie das Handeln dieser Politiker angesichts des Angriffskrieges von Russlands Präsident Putin?

Nora Bossong: Ich habe mich noch vor wenigen Wochen sehr kritisch über das Handeln unserer Politiker geäußert. Zum Glück haben sie ihre Politik seitdem geändert: Das Auftreten von Außenministerin Annalena Baerbock und von Bundeskanzler Olaf Scholz war zuletzt sehr entschieden. Sie haben es geschafft, über den eigenen Tellerrand zu schauen.

Zum Beispiel, als sie sich für umfassende Sanktionen gegen Russland, den Stopp der Gaspipeline Nord Stream 2 und Waffenlieferungen an die Ukraine entschieden und damit eine Zeitenwende in der deutschen Außenpolitik einleiteten. Olaf Scholz gehört mit 63 Jahren nicht mehr zur Generation der "Geschmeidigen", aber Sie, Frau Bossong, schon. Wie erleben Sie persönlich den Angriffskrieg gegen die Ukraine?

Ich war zunächst  in einem Schockzustand, der sich nun etwas löst. Ich habe mich immer eingesetzt für Demokratie, Freiheit, Frieden. Zu sehen, wie das plötzlich zusammenbricht, wie die Sprache der Gewalt so viel lauter und bedingungsloser ist als das, was wir versucht haben aufzubauen, das wirft natürlich Fragen auf: Was haben wir falsch gemacht? Haben wir den Frieden und die Demokratie als zu selbstverständlich empfunden? Vielleicht haben wir sie zu passiv hingenommen, sozusagen eine Demokratie als Selbstbedienungsladen.

Das rot-beige Buchcover von "Die Geschmeidigen" von Nora Bossong
Nora Bossongs Buch "Die Geschmeidigen" ist am 24. Februar erschienenBild: Ullstein

Sie haben sich als Schriftstellerin für Frieden, Demokratie und Menschenrechte engagiert, waren auch Mitglied im Präsidium des deutschen PEN. Wie blicken Sie als Schriftstellerin auf die Situation?

Bossong: Ich verstehe, warum manche hoffnungslos sind, was die Literatur betrifft. All die Texte über den Frieden, all die politisch engagierten Schriftsteller waren ja auch früher schon da und haben den Krieg nicht verhindern können. Wladimir Putin könnte man jetzt zwei Tage lang Gedichte vorlesen - ich glaube nicht, dass er dadurch seine Haltung ändern würde. Aber das ist keine Frage von entweder/oder. Literatur und Poesie sind ein Mauerstein der Demokratie, der sehr wichtig ist. Wenn ein paar Steine an der falschen Stelle fehlen, bricht eben auch das ganze Haus zusammen.

Zurück zur Politik: Was können die Menschen im In- und Ausland von den "geschmeidigen" Politikern in Deutschland in Zukunft erwarten?

Was wir von dieser Generation erwarten können, ist die Rückkehr einer langfristigeren Perspektive in der Politik - Politikerinnen und Politiker werden wieder weiterdenken. Die Gespräche, die ich mit dieser Generation geführt habe, haben mir immer eines klargemacht: Für viele von ihnen sind die als relativ sicher wahrgenommenen 1990er-Jahre auch eine Verpflichtung. Das vorherrschende Gefühl ist: "Wir müssen jetzt auch wirklich Verantwortung übernehmen, gerade weil wir das Glück hatten, in einer in Deutschland so friedlichen Zeit aufgewachsen zu sein." 

Wie wird sich ihre Politik von der Angela Merkels, der vorherigen Bundeskanzlerin, unterscheiden?

Ich schätze Angela Merkel für vieles, aber wenn ich eines kritisieren darf an ihr, dann, dass sie immer nur auf Krisen reagierte und damit eigentlich verpasste, dass man auch wieder eine Politik für die Zukunft gestalten muss. Eine Politik, die sich auch wieder eine Vision zutraut, das ist, was gefragt ist. Die brauchen wir genau deshalb, weil so etwas Orientierung gibt, und nicht im passiven Sinne, "lauft einfach alle dem Leitwolf hinterher", sondern weil es dem entgegenwirkt, was wir in letzter Zeit so viel hatten: Zukunftsangst.

Die in den letzten Wochen nicht abgenommen haben dürfte.

Natürlich war die Zukunftsangst auch berechtigt. Es gibt Dinge, derentwegen wir uns wirklich Gedanken machen müssen, vor allen Dingen der Klimawandel und die Sicherheitspolitik. Das sind zwei Themen, die lange verdrängt wurden, gerade in Deutschland.

Ist Ihre Generation bereit dazu, diese Visionen zu liefern?

Die Stärke der "geschmeidigen" Generation ist ihr ideologiefreies Denken. Man schaut eher auf das Verbindende als auf das Trennende. Das zeigt die aktuelle Regierungskoalition in Deutschland deutlich, und das halte ich gerade jetzt für extrem wichtig, auch in der ganzen Gesellschaft. Wir erleben hier gerade einen Angriff auf unser Verständnis von Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie; eine Bedrohung durch einen autokratischen, aggressiven Menschen, der die Invasion eines souveränen Landes initiiert und durchgezogen hat. Ich würde mir wünschen, dass wir alle mehr darauf blicken, was uns als demokratische Menschen und als Europäer verbindet.

Was ist es denn, das uns verbindet?

Der Wunsch eines Europas mit wenig Grenzen, eines Europas, das im Gespräch miteinander ist und eine Freiheitsperspektive für so viele Menschen wie möglich bietet. Eine Demokratie, an der wirklich alle Menschen teilhaben können, nicht im Sinne einer illiberalen Demokratie wie der von Viktor Orban in Ungarn. Aber was demokratische Teilhabe angeht, ist auch in Deutschland noch Luft nach oben. Denn Menschen müssen erst einmal dazu in der Lage sein teilzunehmen. Das bedeutet Bildung, aber auch soziales Selbstbewusstsein. Wenn Kinder schon verloren haben, weil ihre Eltern im falschen Stadtviertel wohnen und sie auf die falsche Grundschule gehen, dann unterwandert das diesen Partizipationsgedanken. 

In Ihrem Buch schreiben Sie, was uns fehle, seien Ideen für die Zukunft. Die Generation der Geschmeidigen habe sich im Möglichen eingerichtet. Was sehen Sie, wenn Sie in die Zukunft blicken?

Meine Antwort fällt heute anders aus als noch vor zwei Wochen. Ich sehe die Gefahr, dass all das, was in den 90er-Jahren erhofft wurde, vielleicht auch vorschnell erhofft wurde, dieser Siegeszug von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, gerade sehr stark infrage gestellt wird. Die Utopie, die ich dagegensetzen möchte, ist diese: Wir schaffen es, uns des politischen Denkens wieder bewusster zu werden und das politische Handeln in den Mittelpunkt zu stellen.

Wie müsste dieses Handeln aussehen?

Das müsste ein Handeln sein, das darüber hinausgeht, eine ukrainische Flagge zu meinem Facebook-Profilbild hinzuzufügen. Es muss wieder mit einem gewissen Ernst nachgedacht werden. Nicht dieses impulsive Meinungen-Raushauen, das ist noch keine politische Haltung, das ist ein politisches Mitmischen. Ich würde mir ein politisches Denken wünschen, das auch über den Tellerrand hinausgeht, und ein Verlassen der Perspektive, die nur auf die eigenen vier Wände, den eigenen Vorgarten schaut.

Wie führt das in eine bessere Zukunft?

Meine Hoffnung ist, dass wir in dem Moment, wo wir das politische Handeln wieder für uns entdecken, auch die Freude an der Zukunft wieder entdecken. Denn die kommt dann nicht mehr einfach wie ein Schicksal über uns, wir können sie gestalten. Wir können alle politisch handelnde Menschen sein, und erst dadurch erfahren wir eine große Dimension von dem, was es bedeutet, Mensch zu sein. Das wäre meine Hoffnung und meine Vision für die Zukunft.

Das Interview führte Christine Lehnen.                                                                                                                "Die Geschmeidigen - Meine Generation und der neue Ernst des Lebens" von Nora Bossong ist am 24. Februar 2022 auf Deutsch im Ullstein-Verlag erschienen.