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Krug: "Kriegserfahrung ist immer noch Trauma"

Elizabeth Grenier bb
12. August 2019

Seit ihrer Kindheit beschäftigt "Heimat"-Autorin Nora Krug ein Thema: Die Schuld, die Deutschland im Zweiten Weltkrieg auf sich geladen hat. Im DW-Interview erklärt sie, welche Lehren für die Gegenwart daraus folgen.

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Nora Krug
Bild: Nina Subin

DW: Das Wort "Heimat" ist im Deutschen ein aufgeladener Begriff. Die Nationalsozialisten missbrauchten ihn, und neue rechte Gruppierungen und Parteien machen sich ihn zunutze. Edgar Reitz, Regisseur der Filmreihe "Heimat" (1984), sagte der DW, dass er seinem Filmprojekt heute nicht mehr den Titel "Heimat" geben würde. Gegen die "anbrandende Wucht von Inbesitznahme" könne sich ein einzelner Film nicht verteidigen. Warum haben Sie den Begriff benutzt?  

Wir haben das Buch aus eben diesem Grund "Heimat" genannt. Wir hatten das Gefühl, uns den Begriff von den Rechtsextremen zurückholen zu müssen. Das Buch ist sowohl der Versuch herauszufinden, was es bedeutet, Deutsche zu sein, als auch ein Bekenntnis zu Deutschland - auf eine positive Art und Weise. Ich denke, es sollte beides möglich sein: kritisch auf unsere Vergangenheit zu blicken und unser Land dennoch zu lieben.  

Buchcover von Nora Krugs „Heimat“
Cover von "Heimat" (2018)Bild: Penguin Books Ltd

Ihr Buch liefert eine komplexe und sehr poetische Interpretation von Heimat. Aber haben Sie für Interviews auch eine leichter zu verstehende Erklärung? 

Ich glaube, ich habe noch keine klare Definition des Wortes Heimat. Es war nicht Ziel des Buches, einfache Antworten zu liefern oder zu verstehen, was es bedeutet Deutsche zu sein. Es geht eher darum, die deutsche Kriegserfahrung besser zu verstehen.    

Selbst nach dem gesamten Schreibprozess kann ich nicht wirklich sagen, was der Begriff Heimat für mich persönlich bedeutet - teilweise auch, weil ich insgesamt 20 Jahre lang im Ausland gelebt habe. Außerdem ist es ein Begriff, der sich im Laufe der Zeit verändert, genau wie wir selbst und die Gesellschaft sich verändern. Und als solches sollten wir es auch betrachten: als etwas nicht Statisches, als etwas, das sich verändern und für jeden Einzelnen etwas anderes bedeuten darf. 

Hatten Sie Ihr Buch ursprünglich für ein deutsches oder englischsprachiges Publikum konzipiert? 

Als ich das Buch schrieb, hatte ich tatsächlich ein amerikanisches Publikum im Kopf, weil ich als eine in den USA lebende Deutsche häufig mit negativen Stereotypen von Deutschen konfrontiert wurde. Aber ich habe auch Wissenslücken hinsichtlich unseres Umgangs mit der Kriegserfahrung festgestellt. Somit habe ich zuerst auf Englisch geschrieben. 

Dann habe ich aber bemerkt, dass tatsächlich die deutsche Verlagswelt am meisten davon begeistert war. Denn mit diesem Erbe zu leben, ist auch für die Deutschen immer noch ein Trauma. 

Ihr Buch beschreibt, wie Sie versuchen, mehr über die Beteiligung Ihrer Vorfahren am Krieg herauszufinden. Würden Sie andere Deutsche dazu ermutigen, solche Nachforschungen ebenfalls anzustellen? 

Jeder hat seinen ganz eigenen Weg, mit der Vergangenheit umzugehen - den einen gibt es nicht. Aber ich persönlich denke, es ist immer besser, Bescheid zu wissen als nicht. Ich empfand es als schwer, mit Lücken in meiner Familiengeschichte zu leben. Ich wollte so viele Fragen wie möglich stellen und so viel wie möglich herausfinden. Heutzutage haben wir so viele technische Möglichkeiten, Informationen zu erhalten, an die wir vor vielleicht 15 Jahren noch nicht gelangt sind. Bestimmte Dokumente wurden erst kürzlich veröffentlicht. 

Die Parteimitgliedschaft in der NSDAP ist etwas, das man in sehr vielen Familien jener Zeit findet. Trotzdem war der Moment, in dem Sie herausfanden, dass einer Ihrer Verwandten im Zuge der Entnazifizierung offiziell als "Mitläufer" eingestuft worden war, sehr bewegend für Sie. Warum tat das so weh?

Ich war immer davon ausgegangen, dass in meiner Familie niemand ein überzeugter Nazi gewesen ist, weil ich denke, dass man eine solche Information nicht geheim halten kann. Das hätte viel früher in meinem Leben herauskommen müssen.

Aber ich bin eben mit dem Narrativ meines Großvaters Willi aufgewachsen, der sein Leben lang die Sozialdemokraten wählte, die wichtigsten politischen Gegner der Nazis. Deshalb gab es immer diesen Mythos, dass er mit dem Nazi-Regime nichts zu tun hatte. Als ich dann im Archiv herausfand, dass er tatsächlich Mitglied der NSDAP gewesen ist - in die man zu jener Zeit nicht einmal so leicht hineinkam - war ich sehr überrascht. Es tat mir weh, weil ich mit einer Seite von ihm konfrontiert war, mit der es nicht leicht war, umzugehen. Er war in seinen Entscheidungen opportunistisch und ein wenig feige. 

Blick ins Buch „Heimat“ von Nora Krug
"Willi, Tante Karin und ich, 1984" - Familienbild aus Nora Krugs Graphic Novel mit ihrem inzwischen verstorbenen Großvater

Die zwiespältige Stellung Ihrer Vorfahren im Zweiten Weltkrieg - sie waren zwar keine Nazi-Verbrecher, aber eben auch keine Widerstandskämpfer - steht nicht nur für das Schicksal der meisten Deutschen, sondern verleiht Ihrem Buch auch etwas Universelles. Die Leser könnten denken "das hätte meine Familie sein können", oder sogar "das bin ich heute...". War das eines Ihrer Ziele?

Ganz genau. Ich denke, dass die Grauzone des Krieges, in die Menschen fallen, die weder eindeutig als Widerstandskämpfer, Nazifunktionäre oder Kriegsverbrecher einzustufen sind, der Bereich ist, dem es die meiste Aufmerksamkeit zu schenken gilt. Mit ihm dürften sich wahrscheinlich die meisten von uns identifizieren. Und sicherlich lehrt uns dieser Graubereich am meisten darüber, wie diktatorische Regime funktionieren.    

Die Gruppe der Menschen, die irgendwo zwischen diesen Kategorien einzuordnen sind, wurde in Deutschland etwas übersehen, weil es leicht ist, zu sagen "nun, jeder war ein Mitläufer, und meine Familie war es auch". Aber ich glaube, damit macht man es sich zu leicht. Der Begriff des Mitläufers umfasst viel mehr. Es gab etwa welche, die Juden retteten und welche, die schreckliche Verbrechen begangen. Deshalb bin ich der Meinung, dass es sehr wichtig ist, sich einzelne Narrative anzusehen und zu versuchen, mögliche Familienmythen aufzulösen.

Seite aus Nora Krugs Buch „Heimat“ mit schwarz-weiß-Fotografie.
Fotografien, Archiv- und Flohmarktfunde veranschaulichen Krugs ganz persönliche GeschichteBild: Nora Krug

Viele Deutsche behaupteten, sie hätten von den Gräueltaten unter Hitler nichts mitbekommen. Heutzutage weiß man über die Probleme auf der Welt sehr gut Bescheid, und in den USA sind Vorgänge zu beobachten, die häufig mit Deutschland in den 1930er Jahren verglichen werden. Wie blicken Sie als eingebürgerte Amerikanerin mit deutscher Herkunft auf die dortige aktuelle politische Lage? 

Das, was derzeit in den USA passiert, ist sehr beängstigend und ich erkenne Parallelen in manchen Bereichen. Zum Beispiel ist die Sprache sehr viel aggressiver geworden. Das ist beunruhigend. im Moment lese ich zum ersten Mal "Mein Kampf". Es ist so offensichtlich, dass Sprache der Samen von Gewalt ist. Aber ich denke, dass der Vergleich zwischen Hitler und Trump aus historischer Sicht zu vereinfachend ist, auch wenn manche Charakterzüge ähnlich sein mögen.

Finden Sie die Wahl rechtsextremer Politiker in Deutschland beängstigender?  

Beides ist gleichermaßen beängstigend. Natürlich bin ich angesichts der Entwicklungen in Deutschland sehr beunruhigt. Was mich mitunter am meisten beunruhigt, ist die Tatsache, dass die Gesellschaft heute sehr gespalten ist und es immer schwieriger wird, miteinander zu sprechen und einen zivilisierten Dialog zu führen. Deutschland hat unterschätzt, was lange Zeit unter der Oberfläche vor sich ging. Jetzt müssen wir es sehr ernst nehmen.    

Und was ist Ihre Rolle als Künstlerin in diesem Zusammenhang? 

Eines meiner Hauptziele war es, meiner Geschichte einen universalen Charakter zu verleihen. Sie sollte nicht nur auf Deutschland und das Nazi-Regime anwendbar sein. Die Leser sollen Verbindungen zu heute herstellen und Wege finden können, den Begriff "Schuld" durch "Verantwortung" zu ersetzen. Das Buch soll sie außerdem dazu anregen, darüber nachzudenken, wie man selbst zu einer toleranten Gesellschaft beitragen und die Demokratie verteidigen kann. Früher habe ich geglaubt, dass Demokratie im Grunde ein Zustand des Seins ist. Aber jetzt erkenne ich, dass sie ein Prozess ist und wir sie fortwährend verteidigen müssen.     

Das Gespräch führte Elizabeth Grenier. 

 

Nora Krug, geboren 1977 im badischen Karlsruhe, lebt und arbeitet als Autorin und Illustratorin in New York. 2018 kam ihr jüngstes Werk "Heimat" heraus, in dem sie sich mit ihrer eigenen Familiengeschichte auseinandersetzt. Weder Comic noch Graphic Novel, sondern "graphic memoir", gezeichnete Erinnerungen, nennt sie es selbst. "Heimat" wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und erhielt mehrere Auszeichnungen. 

Am 8. August war Nora Krug zu Gast in "Der Tag" (ab ca. 23:30):