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NS-Euthanasie: Probelauf zum Holocaust

Kay-Alexander Scholz1. Februar 2013

Sie waren die ersten Opfer des systematischen Massenmords der NS-Dikatur: psychisch Kranke und behinderte Erwachsene und Kinder. Die erste EU-Konferenz zur NS-Euthanasie versuchte, Wissenslücken darüber zu füllen.

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Bild zur Ausstellung "Kinder-Euthanasie" (Foto: dpa)
Bild zur Ausstellung "Kinder-Euthanasie"Bild: picture-alliance/dpa

Eigentlich plante Adolf Hitler bereits 1935 die "Reinigung des deutschen Volkskörpers von psychisch Kranken, Behinderten und Lebensunwerten". Doch noch rechnete er mit zu großen Widerständen in der Bevölkerung. "Die Lösung sollte der Krieg bringen, dann ist das Leben sowieso weniger wert", berichtete Professor Gerrit Hohendorf auf der ersten europäischen Konferenz zu NS-Euthanasie, die drei Tage lang in Berlin stattfand. Viele der 170 Zuhörer aus 20 Ländern erbleichten angesichts der bestialischen Ideologie der Nationalsozialisten, die aus den historischen Zitaten sichtbar wurde.

"Behinderte waren die ersten Opfer des Nazi-Terrors, die organisiert umgebracht wurden - an ihnen wurde geprobt", sagte der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, Hubert Hüppe.

Hubert Hüppe, Bundesbeauftragter für Binderte (Foto: Horst Galuschka)
Hubert Hüppe, Bundesbeauftragter für BehinderteBild: picture alliance / dpa

"Aktion T4"

Seit dem 18. August 1939 waren Ärzte in Deutschland aufgefordert, Kinder mit Behinderungen den Gesundheitsämtern zu melden. Sie wurden danach in spezielle Anstalten abtransportiert, verhungerten dort oder wurden vergiftet. Der Begriff "Euthanasie" im Sinne von "schönem Sterben" ist also ein falscher Begriff, weil es vielmehr um brutalen Massenmord ging. Der Terminus hat sich aber bis heute in der Geschichtsschreibung etabliert.

Im Oktober 1939 wurde das Tötungsprogramm auf Erwachsene ausgeweitet - und zwar auch in Polen, das im September angegriffen worden war. In der Berliner Tiergartenstraße 4 wurde für die "Aktion T4" eine Verwaltung mit 300 Mitarbeitern aufgebaut. Diese ließen in sechs Kliniken und Anstalten Gasräume einrichten. Hierhin wurden die Menschen mit sogenannten "grauen Bussen" gebracht und dann mit LKW-Abgasen bestialisch umgebracht.

Berlin 2007: Der graue Bus unweit der Tiergartenstraße 4 erinnerte an die Ermordung von Kranken in der NS-Zeit (Foto: dpa)
Berlin 2007: Der graue Bus unweit der Tiergartenstraße 4 erinnerte an die Ermordung von Kranken in der NS-ZeitBild: picture-alliance/dpa

300.000 Opfer

Nach bisherigem Wissen starben nach Hitlers "Euthanasie-Erlass" 70.000 Menschen. Im August 1941 wurde die Aktion beendet, auch weil es Widerstände in der deutschen Bevölkerung gab, wie Hohendorf berichtete. "Die Nazis wollten die Kriegsbereitschaft nicht gefährden." Berühmt wurde die Rede des Kardinals von Galen in Münster, der von der Kanzlei aus die Aktionen als Mord verurteilt hatte.

Dennoch ging das gezielte Töten weiter. Es begann die zweite, von Wissenschaftlern "dezentral" genannte Phase der NS-Euthanasie. Allein 5000 Kinder wurden in 31 "Kinderfachabteilungen" mit Schlafmitteln oder Gift umgebracht, wie Christoph Kopke von der Universität Potsdam berichtete. In psychiatrischen Anstalten wurden - das belegten die extrem hohen Sterberaten aus den Klinikbüchern - die Patienten systematisch unterernährt und so getötet. In den Arbeitslagern der Nazis wurden "dauerhaft Arbeitsunfähige" durch die SS ausgewählt und umgebracht, so Kopke weiter. Oder es gab Massenerschießungen wie jene Aktion im November 1939 in den pommerschen Anstalten im heutigen Polen, bei der 2300 Patienten ermordet wurden.

Nach derzeitigem Wissen starben durch die NS-Euthanasie insgesamt 300.000 Menschen in Europa. In Polen, Ungarn, Tschechien, Sowjetunion, Frankreich, Österreich - überall fanden die Verbrechen statt. Von vielen Opfern wisse man noch nicht einmal die Namen, hieß es. Eine gesamteuropäische Aufarbeitung dieser Nazi-Verbrechen beginnt gerade erst. Das wurde auf der Konferenz in Berlin deutlich.

Jahrzehntelanges Schweigen

"Warum aber dauert die Aufklärung so lange?", fragte Günter Saathoff von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft. Die Konferenz konnte einiges dazu beitragen, die Gründe dafür zu erkunden: Fachleute aus Tschechien, Polen und den früheren Sowjetrepubliken berichteten aus ihren Heimatländern.

"Es gibt keine Institution, keine Gedenkstätte und kaum jemanden, der sich in Polen damit beschäftigt", berichtete Artur Hojan aus Koscian. In Tschechien gebe es zwar ein staatliches Gedenkinstitut, das widme sich aber hauptsächlich der Zeit nach 1948, berichtete Michael Simunek aus Prag. Es gebe zudem nur wenige historische Daten.

Jahrzehntelanges Verschweigen und der Eiserne Vorhang in Europa machten es Forschern in Deutschland schwer, die europäische Dimension der Verbrechen zu erforschen. Das wurde auf der Konferenz deutlich. Ein Problem sei auch, dass Publikationen aus Osteuropa nicht übersetzt wurden. Deshalb wisse man noch immer wenig über die Tagungen zur NS-Euthanasie, die in den 1960er und 70er-Jahren in der damaligen Sowjetunion stattfanden.

Geringes Wissen

"Es gibt viele Länder in Südosteuropa und im Mittelmeerraum, von denen wir gar nichts wissen", sagte Professorin Stefanie Endlich aus Berlin: "Welche Parallelen, welche Unterschiede gibt es? Welche Rolle spielten religiöse Strukturen und Jahrhunderte alte Haltungen gegenüber Menschen mit Behinderungen?", fragte sie. Auch in Deutschland sei viel zu wenig bekannt über Euthanasie. So wurde der Begriff "Vernichtung unwerten Lebens" bereits im späten 19. Jahrhundert erwähnt. Und im Ersten Weltkrieg verhungerten zehntausende Psychiatriepatienten. Über diesen ganzen Komplex, so berichtete Endlich, sei das Wissen bei ihren Studenten sehr gering ausgeprägt.

Doch die Aufarbeitung der Verbrechen der NS-Euthanasie ist nicht nur für die Wissenschaft wichtig. Der Beauftragte der Bundesregierung Hüppe hob hervor, "dass die Diskussion über lebens- und unlebenswertes Leben auch eine aktuelle Relevanz" habe. Wenn er manche anonymen Beiträge in Internetforen zur bioethischen Debatte lese, mache ihm das klar, wie viel "von diesem Gedankengut noch in heutigen Köpfen schlummert".

Christoph Kopke sprach davon, wie wichtig die Erinnerung auch angesichts "der Ökonomisierung aller Lebensbereiche" sei, wonach sich alles rechnen müsse. Er warnte vor zu viel "Kosten-Nutzen-Denken in Krankenhäusern".

Mahnmal geplant

Der Deutsche Bundestag hat mit einem Beschluss im November 2011 insgesamt 500.000 Euro für ein Denkmal bewilligt, das am Ort der Planung des Massenmords, in der Tiergartenstraße 4 in Berlin, im September 2013 eingeweiht werden soll. Die einstige Villa dort steht nicht mehr - dafür wird nun eine blaue, drei Meter hohe Glaswand das Grundstück markieren. Das Denkmal befindet sich dann unweit der anderen Denkmäler für die Opfer der Nationalsozialisten im historischen Stadtzentrum Berlins. Dazu gehören das Holocaust-Mahnmal, das Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma sowie das Denkmal für die verfolgten Homosexuellen.

Schloss Grafeneck (Foto: dpa)
Schloss Grafeneck: In einem nahen Schuppen wurden 10.000 Menschen mit Kohlenmonoxid-Gas getötetBild: picture-alliance/dpa

Vielleicht wird das Thema dann etwas breiter in der Öffentlichkeit diskutiert, als das dieser Tage in Deutschland geschieht. Über die hochinteressante und emotional erschütternde Veranstaltung jedenfalls wurde in deutschen Medien so gut wie gar nicht berichtet.