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Nun reden sie wieder

Oliver Samson4. Juni 2003

Sie war lange überfällig, jetzt scheint sie da zu sein: Eine Diskussion der Intellektuellen darüber, wie das Konzept Europa zukünftig mit Inhalt gefüllt werden könnte.

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Streitbar: Jürgen HabermasBild: AP

Es war eine außergewöhnliche, wohl sogar einzigartige, jedenfalls streng geheime Initiative: Namhafte Intellektuelle veröffentlichten in namhaften europäischen Zeitungen zeitgleich Essays über die Positionierung Europas in der Welt. Adolf Muschg in der Schweizer "Neuen Zürcher Zeitung", Umberto Eco in der italienischen "La Repubblica", Fernando Savater in der ebenfalls italienischen "La Stampa", Richard Rorty, der einzige Nicht-Europäer, in der "Süddeutschen Zeitung" - alleine das wäre schon eine veritable intellektuelle Breitseite gewesen. Ein Schwergewicht wurde die Aktion aber durch ihren Wortführer Jürgen Habermas (74), den unbestritten einflussreichsten deutschen Philosophen der Gegenwart. Und es ist fast schon sensationell zu nennen, dass Habermas seinen am 31. Mai 2003 sowohl in der Pariser Zeitung "Liberation" als auch der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (FAZ) veröffentlichten Essay zusammen mit seinem französischen Kollegen Jacques Derrida (73) unterzeichnete.

Kritische Theorie versus Dekonstruktivismus

Habermas und Derrida - zwei Philosophen, die auch außerhalb des universitären Umfelds gelesen und gehört werden, über die gesprochen und diskutiert wird, die nicht nur Geistesgrößen, sondern auch veritable Stars sind. Habermas und sein französisches Pendant waren sich bisher nicht unbedingt in herzlicher Freundschaft verbunden: Zu weit voneinander entfernt schienen ihre philosophischen Denkansätze: Derrida als Begründer des Dekonstruktivismus, einer Methode der Text- und Literaturkritik, die – denkbar vergröbert- die gleichzeitige Gültigkeit verschiedenster Lesarten eines Textes beweist. Habermas, als Schüler Max Horkheimers und ehemaliger Assistent Theodor W. Adornos immer hochpolitischer Vertreter der "kritischen Theorie" der Frankfurter Schule.

"Gemeinsam die Stimme erheben"

Jaques Derrida
Jaques Derrida spricht vor Studenten der Istanbuler Bocazici-Universität, Mai 1997Bild: JAST

Derrida verschweigt die Gegensätze in seinem Vorwort zum von Habermas geschriebenen Essay nicht: Ungeachtet der "Auseinandersetzungen, die uns in der Vergangenheit getrennt haben", und zwar nicht nur ihn und Habermas, sondern "deutsche und französische Philosophen" insgesamt, müsse man nun gemeinsam die Stimme erheben. Der Essay begründet, dass nach dem Irak-Krieg der geeignete Moment gekommen sei, um die europäische Rolle in der Welt neu zu definieren. Der 15. Februar 2003 mit seinen gesamt-europäischen Demonstrationen gegen den drohenden Irak-Krieg könne "rückblickend als Signal für die Geburt einer europäischen Öffentlichkeit in die Geschichtsbücher eingehen". Dieser Schub von unten müsse genutzt werden. Was die Europäer verbinde, müsse zunächst in einem "avantgardistischen Kerneuropa (...) als Lokomotive" geklärt werden.

Gegenentwurf zur forschen Hegemonialpolitik

Das geeinte Europa könne dann das Design einer "künftigen Weltinnenpolitik" zur Geltung bringen, das heisst "eine kosmopolitische Ordnung auf Basis des Völkerechts" gegen "konkurierende Entwürfe", nämlich die "forsche Hegemonialpolitik" der USA, verteidigen. Habermas nennt auch die Merkmale, mit denen das Konzept Europa Profil gewinnen könnte: die weitgehend vollzogene Trennung von Staat und Religion, ein größeres Vertrauen in den Staat als in den Markt, "keine ungebrochen optimistischen Erwartungen" in den technischen Fortschritt, dafür Präferenzen für solidarische Regelungen, eine ausgeprägte Wertschätzung der Integrität des Individuums, sowie den Wunsch nach starken übernationalen Organisationen wie den Vereinten Nationen zur Kontrolle und Verminderung militärischer Gewalt.

Gefährliche Sehnsucht

Im Gegensatz zum US-Philosophen Richard Rorty, der Habermas` Vorschläge ausdrücklich auch im Interesse der USA fast schon euphorisch begrüßte, legte der amerikanische Historiker Harold James in der "Süddeutschen Zeitung" vehement Widerspruch ein. Natürlich müsse "Europas Zukunft ein Konzept haben", aber die "allmähliche Erosion des Nationalstaates" habe die Philosophen wohl "verwirrt", dass sie Außen- und Innenpolitik verwechseln würden. Die Absage an den Kapitalismus, der momentan mit einer einzigartigen Geschwindigkeit Armut auf der Welt lindere, sei die Rückkehr zu jener "antikapitalistischen Sehnsucht, die schon so viel Schaden angerichtet hat, nicht nur in Europa, sondern in der ganzen Welt."

Mit diesem Hinweis auf Kommunismus und Faschismus dürfte wohl das Feld für weitere heftige Diskussionen bestellt sein. Beide Essays, sowohl der Habermas`sche als auch der von James schreien geradzu nach Repliken. Aus der FAZ wurde schon bekannt, dass eine ganze Reihe von Essays zum Thema geplant ist. Gut denkbar, dass Europa vor der größten und wahrscheinlich auch heftigsten intellektuellen Debatte der vergangenen Jahrzehnte steht. Und obwohl es um den scheinbaren Antagonismus zwischen neuem und altem Europa und den USA gehen wird, wird es wohl eine europäische Diskussion bleiben - zumindest vorerst. Während sich in der alten Welt alle großen Zeitungen an der anschwellenden Welle der Diskussion beteiligen, schweigen sowohl die "New York Times" als auch die "Washington Post" scheinbar unbeeindruckt.