"Prostitution und Kinderhandel sind Folgen von Hunger"
3. Juli 2014Deutsche Welle: Sie sind als Direktor des Welternährungsprogramms (WFP) der Vereinten Nationen in der Demokratischen Republik Kongo tätig. Wo sind die Probleme besonders groß?
Martin Ohlsen: Die Flüchtlingscamps, die vom Welternährungsprogramm errichtet werden, liegen meist in unwirtlichen Gegenden, unweit der Grenzen zu Krisenstaaten. Wir haben ein logistisches Problem, die Menschen dort mit medizinischen Gütern und Nahrungsmitteln zu versorgen. Die andere Hälfte der Flüchtlinge lebt in Gastfamilien, die auch nicht zu den Reichsten gehören und unterstützt werden müssen. Wir versorgen die Menschen mit Nahrungsmitteln wie Salz, Öl, Erbsen, Früchten. Außerdem bekommen sie Bargeld, um dann vor Ort Mais, Weizen oder Reis zu kaufen. Eine Familie mit fünf Personen bekommt umgerechnet 20 US-Dollar pro Monat dafür.
Was bekommt ein Mensch im Flüchtlingslager pro Tag zu essen - qualitativ und quantitativ?
Jeder Flüchtling hat bis zu 1,50 US-Dollar am Tag für Grundnahrungsmittel zur Verfügung. Aber dem WFP fehlt Geld aus Spenden, daher müssen die Rationen halbiert werden. Als Folge können die Menschen nur eine Mahlzeit am Tag einnehmen. Besonders Alte und Kinder trifft das, die unzureichend ernährt werden, aber hochwertige Nahrungsmittel zum Überleben benötigen. Die Menschen zeigen dann irgendwann Mangelerscheinungen wie aufgeblähte Bäuche oder werden anfälliger für Krankheiten.
Hunger erzeugt Müdigkeit, aber auch Aggression. Ist zu Befürchten, dass Flüchtlinge, die hungern, früher oder später revoltieren?
Na ja, es gibt dann andere Möglichkeiten zum Überleben. Viele Flüchtlinge verlassen die Lager. Prostitution, Kinderhandel und die Rekrutierung von Kindersoldaten sind schreckliche Phänomene unzureichender Versorgung. Andererseits gibt es Flüchtlinge, denen Regierungen Land und Saatgut zur Verfügung stellen. Wir haben beobachtet, dass die Menschen dann sofort anfangen, die Flächen zu kultivieren, um eigenständig für ihre Versorgung zu sorgen.
Es fehlen Hilfsgelder der Geberländer, also der UN-Mitgliedsstaaten. Wie ist das möglich?
Es gibt Flüchtlingscamps wie zum Beispiel an der kenianisch-somalischen Grenze mit 350.000 Menschen. Das besteht seit 15 Jahren. Darüber spricht die Weltöffentlichkeit nicht mehr. Es wird eher für aktuelle Krisenregionen gespendet wie Syrien. Die Geberländer sehen oft keinen Sinn mehr darin, ein bestimmtes Land zu unterstützen. Wir sprechen in diesem Zusammenhang von "Donor-fatigue", "Spendenmüdigkeit". Außerdem bekommen wir die globale Finanzkrise zu spüren. Und dann nimmt die Zahl der Krisenherde weiter zu. Deshalb konkurrieren Hilfsorganisationen und verschiedene Krisenregionen darum, Zuwendungen zu erhalten. Umso wichtiger ist es, private Stiftungen um Unterstützung zu bitten. Die meisten gibt es in den USA, wie die von Bill Gates, Howard Buffett oder die UPS-Donation. Meine Organisation ist, im Gegensatz zu anderen UN-Organisationen, vollständig auf freiwillige Zuwendungen angewiesen und wird hauptsächlich von Regierungen finanziert.
Sie waren zu Gast im Auswärtigen Amt in Berlin. Welche Signale haben Sie vom Ministerium erhalten?
Die Bundesregierung hat ein riesiges Verständnis für die Flüchtlingsfrage und auch den Wunsch, mitzuwirken. Ich habe schon gemerkt, dass man einen Bezug zu Syrien hat und zur italienischen Insel Lampedusa, wo die meisten Flüchtlinge aus Afrika anladen. Deutschland gehört traditionell zu den großen Unterstützern des Welternährungsprogramms.
Martin Ohlsen ist seit drei Jahren Direktor des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen (WFP) in der Demokratischen Republik Kongo. Vorher arbeitete der studierte Volkswirt in verschiedenen Krisengebieten.
In Afrika unterstützt das WFP 2,4 Millionen der Flüchtlinge dort mit Nahrungsmitteln. Sie leben in 200 Flüchtlingscamps in 22 Ländern, weil in ihrer Heimat Krieg herrscht und sie vor Verfolgung geflüchtet sind. Infolge mangelnder Spenden musste das WFP die Rationen von 450.000 Flüchtlingen in Camps in der Zentralafrikanischen Republik, Tschad und im Südsudan bereits um mindestens 50 Prozent kürzen. Weitere 338.000 Flüchtlinge in Liberia, Burkina Faso, Mosambik, Ghana, Mauretanien und Uganda erhalten fünf bis 43 Prozent weniger Nahrungsmittel.
Das Gespräch führte Karin Jäger.