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"Deutschland braucht Frankreich"

Jeanette Seiffert21. September 2014

Kein einfacher Besuch für Premier Valls in Deutschland: Der "deutsch-französische Motor" stottert gewaltig. Politikwissenschaftlerin Guérot plädiert für mehr Verständnis für den französischen Nachbarn.

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Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot. Foto: DW.

Deutsche Welle: Frankreichs Präsident François Hollande hat weiteren Sparmaßnahmen eine Absage erteilt, auch für Reformen erbittet sich Paris mehr Zeit: Das deutsch-französische Verhältnis, so scheint es, ist mittlerweile eher von Gegensätzen als von Gemeinsamkeiten geprägt. Woran liegt das?

Ulrike Guérot: Wenn man es aus historischer Perspektive betrachtet, dann war dieses Verhältnis ja immer nicht ganz einfach. Wir haben manchmal so eine romantisierende Betrachtung, wenn wir sagen: In den 1990er Jahren, da haben wir mal eben gemeinsam den Euro gemacht. Wenn man sich das aber genauer ansieht, dann war da immer auch viel Hauen und Stechen.

Aber wir haben im Moment einfach sehr unterschiedliche Entwicklungen in Deutschland und Frankreich, vor allem im wirtschaftlichen Bereich. Und das eröffnet beiden Ländern sehr unterschiedliche Möglichkeiten: Für Deutschland war es in den vergangenen Jahren möglich, am Weltmarkt teilzunehmen und das Land auf Vordermann zu bringen, zu reformieren, sich auch politisch zu erneuern. Den Franzosen war das nicht möglich. Dafür kann man sie tadeln oder auch nicht - jedenfalls zerreißt es das deutsch-französische Verhältnis.

Wenn der französische Premier Manuel Valls am Montag auf Merkel trifft - treffen dann auch zwei finanz- und wirtschaftspolitische Konzepte aufeinander?

Manuel Valls redet vor Abgeordneten in Paris (Foto: Getty Images)
Frankreichs Premierminister Manuel VallsBild: Getty Images

Ja und nein. Frankreich ist seit dem Amtsantritt François Hollandes 2012 ja eher herumlaviert, Hollande hat sich sehr stark auf den linken Flügel seiner Sozialisten eingelassen und auch auf die Grünen. Aber die Ernennung von Valls - und er ist ja jetzt schon sein dritter Premier - ist als Signal zu sehen, dass man ganz klar einen Reformschnitt machen will. Und das kann Valls auch: Er hat für die nächsten Präsidentschaftswahlen 2017 keine eigenen politischen Ambitionen, das heißt, er könnte es sich erlauben, die notwendigen tiefen Schnitte zu machen im Bereich der Renten, der Krankenkassen, der Einsparungen im Haushalt. Bisher waren all die Reformen ja eher halbherzig. Schritte, die andere Länder wie Griechenland, Portugal und auch Italien schon gegangen sind, hat Frankreich bisher vermieden - ganz zu schweigen von Deutschland, das das ja mit der "Agenda 2010" schon vor über zehn Jahren gemacht hat.

Warum tun sich die Franzosen so schwer mit Reformen?

Dafür gibt es natürlich ganz unterschiedliche Gründe, auch im mentalen Bereich. Es gibt ja diesen schönen Satz: Die Franzosen machen alle Jubeljahre mal eine Revolution, aber keine Reformen. Da staut sich dann immer alles sehr auf, und wenn der Druck zu groß wird, gehen die Menschen auf die Straße. Das stimmt schon - aber ich habe auch Verständnis dafür. Man kann Frankreich und Deutschland nicht vergleichen.

Ein Grund dafür ist, ganz platt, die Geographie: Wir tun immer so, als könnten die Franzosen das deutsche Modell einfach so übernehmen, mit dem starken Mittelstand, dem dualen Ausbildungssystem. Da sage ich immer: Wenn Sie einmal mit dem Auto von Dijon nach Bordeaux, also von Ost- nach Westfrankreich gefahren sind, dann fahren Sie im Wesentlichen durch 500 Kilometer Sonnenblumenfelder. Da ist nicht wie in Deutschland alle 20 Kilometer eine Autobahnabfahrt mit einem Industriegebiet, wo ein bisschen Mittelstand ist. Diese homogene politische und geographische Struktur gibt es dort nicht, sondern ein sehr starkes Stadt-Land-Gefälle. Und da kommen die Deutschen dann manchmal sehr hochnäsig an mit ihrem Diskurs: Jetzt sollen die Franzosen mal reformieren. Ich habe viel Verständnis dafür, dass man den Franzosen nicht einfach ein deutsches System aufpfropfen kann. Dazu kommt noch der massive Druck von rechts, von Marine le Pen.

Im Grunde ist Frankreich im Moment eine einzige narzisstische Kränkung: Es liegt ganz im Westen der EU, findet sich mit der ganzen Osterweiterung und dem damit einhergehenden Exportsog Richtung Osten auf einmal an der Peripherie wieder. Frankreich fühlte sich als Sieger des Zweiten Weltkriegs - und jetzt schmiert es wirtschaftlich so ab gegenüber Deutschland, das so gut dasteht, in der Mitte Europas, mit Exportüberschüssen, und dann auch noch bei der Fußball-WM 7:1 gegen Brasilien gewinnt. Die Franzosen haben ein massives Problem mit ihrer Marginalisierung - und das kann man ja irgendwie auch verstehen.

Man hat den Eindruck, dass die Franzosen im Moment vor allem mit sich selbst beschäftigt sind: Hollande tapert von einer innenpolitischen Krise in die nächste. Kann sich Deutschland auf Frankreich als Partner noch verlassen?

Welches Land ist denn gerade nicht mit sich selbst beschäftigt? Großbritannien, Schottland, Griechenland, Italien - da könnte man einige aufzählen. Und die Deutschen mit ihrem Gezerre um die Mautgebühren sind ja auch nicht immer diejenigen, die so sehr über den Tellerrand schauen.

Das, was da tatsächlich passiert, ist, dass die Franzosen immer mehr merken, dass sie die "lame duck", die "lahme Ente" Europas geworden sind und sich natürlich viele Blicke auf Frankreich richten. Das wiederum liegt aber auch in der Natur der deutsch-französischen Beziehungen: Wir Deutschen können uns das ja gar nicht erlauben, dass Frankreich zurückfällt. Denn wir haben in den letzten fünf Jahren der Eurokrise ja gesehen: Wir können Europa nicht alleine. Selbst wenn wir alleine den Kurs bestimmen wollen - es funktioniert nicht, weil dann die anderen Länder gegen das "deutsche Diktat" revoltieren.

Es geht nur mit Frankreich. Wenn es schmollt und nicht mit den Deutschen an einem Strang zieht, ist alles blockiert. Das ist also schon so eine Tandem-Rolle der beiden Länder, an der Deutschland ein maßgebendes Interesse hat: Wenn uns Frankreich wegbricht als Partner, stehen wir in Europa alleine da. Und das sollten die Deutschen mitdenken, wenn sie oft so tadelnd auf Frankreich schauen. Ich wünsche mir einfach mehr psychologische Empathie für Frankreich und das, was sich dort politisch, kulturell und historisch abspielt.

Das Interview führte Jeanette Seiffert.

Die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot (Jahrgang 1964) forscht bei der Stiftung Open Society Initiative for Europe (OSIFE) zur Zukunft der Europäischen Demokratie. Guérot wurde mit einer Arbeit über die französischen Sozialisten promoviert. 2000 bis 2003 war sie Leiterin der Programmgruppe Europa bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin und von 2004 bis 2007 wissenschaftliche Mitarbeiterin beim German Marshall Fund.