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"Biennale-Ära vorbei"

Rainer Traube / kbm16. März 2015

"Museen verschwenden Platz und sind zu kommerziell", sagt Okwui Enwezor. Im DW-Interview erklärt der Kurator der diesjährigen Biennale, warum sich die Kunstwelt unbedingt verändern muss.

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Italien Venedig Biennale Okwui Enwezor
Bild: picture alliance/ROPI/M. Toniolo

DW: "All the World's Futures" - "Alle Zukünfte der Welt" - lautet das Thema der diesjährigen Biennale. Was möchten Sie damit erreichen?

Okwui Enwezor: "All the World's Futures" ist nicht wirklich ein Thema, sondern viel eher eine Absicht in dem Sinne, dass die Ausstellung in einem bestimmten Moment in der Weltgeschichte stattfindet. Ich bin mir ziemlich sicher, dass jedes Jahrzehnt seine Probleme und Schwierigkeiten hatte.

Ich finde, wir hatten zwei schreckliche Jahre seit der letzten Biennale. Ich dachte über den Stand der Welt nach, über die Art und Weise in der Dinge uns erscheinen und darüber, was wir mit den Objekten und Bildern und Technologien tun, die es uns ermöglichen, an der Geschichte mitzuschreiben. Ich interessierte mich grundsätzlich für die Idee von "Rückständen" (im Englischen "residue", Anm. d. Red.). Es gibt drei Filter im Programm. Es gibt den "Garten der Unordnung." Es gibt "Das Kapital: Eine Lesung." Und es gibt "Liveness: Über epische Dauer," welches ein Versuch ist, mit der Idee umzugehen, wie der Raum und die Zeit einer Ausstellung auch in ihr vorkommen können.

Brauchen wir einen Vortrag über Marxismus, um uns auf die Zukunft vorzubereiten?

Wir interessieren uns nicht für einen Vortrag über Marxismus. Ich versuche eigentlich nicht mal, Marxismus in die Ausstellung reinzupressen. Ich möchte aber den Text "Das Kapital" in die Ausstellung integrieren. Ich möchte Marx' "Kapital" als einen hochkontroversen Text zum Thema machen, aber nicht dessen ideologische Anwendung. Ich möchte den Text im säkularen Ton lesen lassen und das braucht Zeit. Und ich möchte schauen, ob wir ihn als unser zeitgenössisches Oratorium betrachten können.

Sie haben häufig über die Macht des gesprochenen und vor allem auch schriftlichen Wortes gesprochen. Das scheint hier ein zentrales Thema zu sein. Aber alle reden heutzutage über die Macht des Bildes. Wollen Sie sich der entziehen?

Es scheint so zu sein. Ich wollte mit ganz klaren Dingen beginnen und für mich heißt das eine Rückkehr zu einer vorvisuellen Dimension menschlicher Erfahrung: zu Wörtern. Was sie bedeuten, wie sie ausgesprochen werden, wie sie zitiert werden. Es ist ein Anknüpfungspunkt für die Ausstellung, der mit menschlicher Subjektivität zu tun hat. Die Fähigkeit, das so zu sagen, wie ich es sage, verkörpert Widerstand. Deshalb ist dieser Teil der Ausstellung so präzise; ich wollte ihn in den Vordergrund stellen, damit man die Ausstellung auch verstehen kann.

Sie haben den aktuellen Stand der Welt erwähnt. Den möchte man natürlich in einer Ausstellung wie der Biennale erleben. Aber ist es in Zeiten des weltweiten Aufruhrs noch realistisch, den Sinn in einer einzelnen Ausstellung zu finden?

DW Rainer Traube Interview Okwui Enwezor Biennale 2015
Okwui Enwezor im Gespräch mit Rainer TraubeBild: DW/R. Traube

Ich interessiere mich nicht für hegelsche Dialektik. Ich interessiere mich nicht für eine Synthese, die alles zusammenfasst. Ich glaube auch nicht, dass es möglich ist, die zeitgenössische Kunstwelt anhand von Einkapselungen zu verstehen.

Deshalb gibt es die Idee von "Rückständen." Es ist eine Art, die Gegenwart zu reflektieren. Der Begriff ist fundamental, um die Gegenwart historisch zu betrachten. Was bedeutet das? Das bedeutet, dass wir einen Schritt zurücktreten und die Vergangenheit in Betracht ziehen sollen, um in die Zukunft zu schauen und nicht umgekehrt. Ich nehme keine Perspektive ein, die zurückblickt.

Ich bin nicht davon überzeugt, dass meine Ausstellung das aktuelle Geschehen zusammenfassen soll. Sie soll eher teilhaben an der Beschreibung dessen, was geschieht.

Erzählen Sie über Ihre Arbeit als Kurator. Wie kommt man mit den Künstlern in Kontakt?

Man hat Kollegen, Leute schicken Tipps, man erklärt denen das Konzept und die Ziele. Manchmal tragen sie dazu bei. Man bekommt so viele Ideen: Manche funktionieren, manche nicht.

Aber man reist auch. Ich habe mich sehr darum bemüht, viele Orte in der Welt zu besuchen, wie zum Beispiel Nigeria, Südafrika Argentinien, China, Japan, Korea und so weiter. Ich habe diese Orte besucht, um mir selber ein Bild von den verschiedenen Kunstwelten zu machen. So konnte ich Entscheidungen treffen, um Dinge zusammenzubringen. Eine Ausstellung wie die Biennale braucht zwei Dinge: sorgfältige Abstimmung und Schnelligkeit, wenn die Zeit knapp wird.

Die Kunstwelt ist in den letzten 20 Jahren extrem expandiert. Behindert der Kunstmarkt Ihre Arbeit?

Nein, tut er nicht. Ich würde sagen, die Biennale-Ära ist jetzt vorbei. Wir haben jetzt die Ära der Kunstmessen und Auktionshäuser. Wir haben jetzt eine Zeit, wo wir unseren Auktionär persönlich kennen. Das ist ziemlich verrückt!

Trotzdem haben Sie gesagt, dass der Kunstmarkt nicht die größte Herausforderung für die Kunstwelt darstellt. Warum?

Warum sollte das so sein? Ich glaube, die größte Herausforderung ist die Finanzierung von Kunsteinrichtungen. Es ist sehr kritisch zurzeit. Institutionen werden dermaßen vom Umsatz betrieben, dass wir nie versäumen dürfen, den Massen zu gefallen. Dieser Populismus ist eine große Herausforderung für den gemeinnützigen Bereich.

Ich finde, es ist sehr wichtig, anzuerkennen, welche Serviceleistungen Galerien bieten. Kunstwerke zu zeigen, weil man an sie glaubt und nicht, weil man sie verkaufen will, erfordert Mut. Ich möchte Galerien nicht davon abraten, Risiken einzugehen, denn wir brauchen Risiken. Es ist Teil unsrer disziplinarischen Ökologie. Galerien spielen eine Rolle; Märkte spielen eine Rolle. Wie groß ihre jeweiligen Rollen sind, müssen wir aber hinterfragen.

Es heißt, dass das 21. Jahrhundert dem "globalen Süden" gehört - was auch immer das bedeutet. Hat das eine Rolle in Ihrer Künstlerauswahl gespielt?

Nein. Ich treffe nie Prognosen, bin aber immer an Diagnosen interessiert. Wie kann es sein, dass das 21. Jahrhundert dem "globalen Süden" gehört? Wir können zurzeit sehen, dass es große Spannung zwischen Kulturen gibt. Das kann man an Charlie Hebdo in Paris, Pegida in Deutschland, Tea Party in den USA, ISIS im Nahen Osten und Boko Haram in Nigeria erkennen. Es gibt so viel Aufruhr.

Ich würde sagen, dass wir im Moment nicht vorhersehen können, wie sich alles entwickelt; deswegen kann ich nicht sagen, ob das 21. Jahrhundert dem globalen Süden gehört. Übrigens war der globale Süden seit jeher ein Begriff. Ich komme von dort und es ist eine Art politisches Konstrukt.

Die Biennale zu kuratieren, gilt als eine Art Ritterschlag in der Kunstwelt. Was steht als nächstes für Sie an?

Die aktuelle Herausforderung ist das Haus der Kunst. Die Anzahl der Museen steigt ständig. Die Leute denken nicht ökologisch. Wie können wir mehr machen mit weniger Ressourcen und wie können wir bessere Ausstellungen mit weniger Platz veranstalten? Können wir mehr Sammlungen zeigen, ohne das Budget zu sprengen?

So viel Geld wird in die Infrastruktur gesteckt, aber so wenig in die Software. Im Haus der Kunst versuchen wir eine Balance zu finden. Ich habe das Gefühl, dass ich intuitiv agieren muss. Das bedeutet, dass wir unsere Ausstellungen räumlich verkleinern und unseren "Fußabdruck" verringern, indem wir unseren Raum intelligenter nutzen.

Der gebürtige Nigerianer Okwui Enwezor wurde in Deutschland bekannt, als er 2002 die weltgrößte Kunstschau, die documenta 11 in Kassel, kuratierte. Seit drei Jahren leitet er das renommierte Haus der Kunst in München. Die Biennale 2015 eröffnet am 9. Mai in Venedig.

Das Interview führte DW-Redakteur Rainer Traube.