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PolitikUngarn

Orban lenkt ein: EU verhandelt Beitritt mit Ukraine

14. Dezember 2023

Der EU-Gipfel hat den Weg für Beitrittsgespräche mit der Ukraine und Moldau frei gemacht - ohne die explizite Zustimmung von Ungarns Premier Orban. Dafür blockierte dieser Ukraine-Hilfen. Bernd Riegert aus Brüssel.

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EU-Gipfel in Brüssel: Treffen von Orban, Macron und Mitsotakis 2023 | Europäische Union
Ungarns Premier Orban musste den Tagungsraum im Gipfelgebäude mal kurz verlassen: Dann wurde abgestimmtBild: Yves Herman/REUTERS

Der Präsident der von Russland angegriffenen Ukraine kann sich freuen. Wolodymyr Selenskyj hatte am Vormittag noch einmal leidenschaftlich an die Teilnehmer des EU-Gipfels appelliert, Beitrittsverhandlungen mit seinem Land aufzunehmen. Offenbar hat die Aufforderung an die Europäische Union, glaubwürdig und handlungsfähig zu bleiben, gewirkt. Am frühen Abend verkündete der Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel, die in seinen Augen "historische Entscheidung": Die EU wird Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine und der Republik Moldau aufnehmen. Dem benachbarten Georgien wird Kandidatenstatus für einen Beitritt verliehen. Bosnien-Herzegowina wird als fünftes der sechs westlichen Balkanländer Beitrittsverhandlungen mit der EU aufnehmen können. "Diese Entscheidung ist extrem wichtig für die Glaubwürdigkeit der Union", sagte Charles Michel erleichtert vor Journalisten.

Belgien | EU-Gipfel | Ratspräsident Charles Michel
Charles Michel, Ratspräsident der EU: Das ist eine historische EntscheidungBild: Virginia Mayo/AP Photo/picture alliance

Ungarn gibt nach

Überraschend schnell war es den 26 EU-Mitgliedsländern gelungen, das 27. Mitgliedsland Ungarn von seinem Veto gegen Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine abzubringen. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban hatte noch einige Stunden zuvor Verhandlungen mit der Ukraine kategorisch ausgeschlossen, weil die Ukraine drei von sieben Bedingungen nicht erfülle und es deshalb nichts zu verhandeln gebe. Ob der massive politische Druck der übrigen EU-Staats- und Regierungschefs ihn einknicken ließen oder die Freigabe von zehn Milliarden Euro aus dem EU-Haushalt für Ungarn durch die EU-Kommission tags zuvor eine Rolle spielten, blieb am Abend noch unklar. Der Regierung in Budapest waren von der EU vor einem Jahr bis zu 31 Milliarden Euro an Geldern gesperrt worden, weil die Gemeinschaft schwere Bedenken wegen rechtstaatlicher Mängel und Korruption gegen Ungarn hegt. 

Amtsantritt von Argentiniens neuem Präsidenten Milei
Der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, (li.) hatte bei einem Treffen in Argentinien Anfang Dezember an Viktor Orban (re.) appelliert.Bild: Fernando Gens/dpa/picture alliance

Beitrittsprozess im Rekordtempo

Historisch ist die Entscheidung, die Ukraine zu Beitrittsgesprächen einzuladen auch, weil das Land und das kleine benachbarte Moldau in Rekordzeit den komplexen Prozess von Antragstellung bis Eröffnung der Verhandlungen absolviert haben. Nicht einmal zwei Jahre sind seither vergangen. Das ist natürlich auf den Angriff Russlands und die Bedrohung der EU durch Russland zurückzuführen. Bundeskanzler Olaf Scholz hatte sich ein klares Signal an den russischen Machthaber Wladimir Putin gewünscht, dass die EU die Ukraine auch weiter unterstützen wird. Er hat es bekommen. 

Abstimmung ohne Orban im Raum

EU-Diplomaten hatten vor dem Gipfeltreffen angekündigt, man werde Viktor Orban, der sein Veto schon mehrmals ausgespielt hat, um Entscheidungen zu verzögern, schon von "seiner Palme wieder auf den Boden bringen". Offenbar hat man einen diplomatischen Kniff angewendet, um Orban einen Gesichtswahrenden Rückzug zu ermöglichen. Er verließ den Raum während die anderen 26 Staats- und Regierungschefs für Verhandlungen mit der Ukraine stimmten. Der Beschluss wurde also nicht 100 Prozent einstimmig, aber ohne Gegenstimme gefasst. Das ist nach der Geschäftsordnung des Europäischen Rates offenbar ausreichend. Diesen ungewöhnlichen Abstimmungsmodus hatte nach DW-Informationen Bundeskanzler Olaf Scholz vorgeschlagen, der am Morgen mit Viktor Orban gefrühstückt hatte, um Kompromisslinien auszuloten.

Belgien Brüssel | EU-Gipfel | Bundeskanzler Olaf Scholz
Bundeskanzler Scholz: Fand er den diplomatischen Ausweg aus der ungarischen Sackgasse?Bild: Hatim Kaghat/dpa/picture alliance

Keine 50 Milliarden für die Ukraine

Doch dafür kam es bei den EU-Finanzhilfen für die Ukraine zum Eklat. In der Nacht blockierte der ungarische Premier Viktor Orbán die Auszahlung weiterer EU-Hilfen für die Ukraine in Höhe von 50 Milliarden Euro. "Veto gegen die zusätzlichen Mittel für die Ukraine", schrieb der ungarische Regierungschef in der Nacht zum Freitag im Kurznachrichtendienst X.

Nach Angaben aus EU-Kreisen werden die 27 EU-Staats- und Regierungschef sich im Januar erneut mit dem Thema befassen. EU-Ratspräsident Charles Michel sagte: "Wir werden Anfang nächsten Jahres auf dieses Thema zurückkommen und versuchen, Einstimmigkeit zu erzielen."

 

Ein Beitritt liegt noch in weiter Ferne

Die Verhandlungen mit der Ukraine und der Republik Moldau werden nicht unmittelbar beginnen. Nach den bisherigen Regeln wird jetzt ein Datum für eine sogenannten Regierungskonferenz festgelegt. Dort wird dann 2024 im Beisein der Beitrittskandidaten formell mit den Gesprächen begonnen. Die können sich hinziehen. Mit der Türkei wird seit 2005 verhandelt, bislang ohne Ergebnis. Einige Staaten des westlichen Balkan warten seit 20 Jahren auf ihre Aufnahme in den europäischen Klub.

Der niederländische Ministerpräsident sagte zu Beginn des Gipfel, es werde noch "sehr viele Jahre" dauern bis es zu einem Beitritt komme. Zuvor muss sich die EU selbst reformieren, um überhaupt in der Lage zu sein, ein großes von Krieg geschundenes Land wie die Ukraine mit 40 Millionen Einwohnern aufzunehmen. Sowohl Entscheidungsprozesse als auch das Budget müssten grundlegend überarbeitet werden. "Wir dürfen jetzt nicht im Kreis laufen, sondern müssen unsere Hausaufgaben machen", sagte Roberta Metsola, die Präsidentin des Europäischen Parlaments.

Porträt eines Mannes mit blauem Sakko und roter Krawatte
Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union